Ausland24. Dezember 2021

Weder Krieg noch Frieden

Syrien 2021: Wirtschaftskrise, westliche Sanktionen, stockende Verhandlungen

von Karin Leukefeld

Es ist still geworden um Syrien. Die konkurrierenden ausländischen Akteure sind in andere Interessenskonflikte verwickelt. USA und EU versuchen, ihre regionalen Partner in die Kontrolle des verwüsteten Mittleren Ostens einzubinden.

Die wirtschaftlichen und sozialen Probleme haben sich verschärft. Auslöser sind zehn Jahre Krieg, US-amerikanische und türkische Besetzung von rohstoffreichen Teilen des Landes, einseitige Wirtschaftssanktionen und politische Isolation seitens der reichen, westlichen Industriestaaten. Die israelische Armee hat ihren Schattenkrieg gegen Syrien und seine Verbündeten mit Luftangriffen auf syrisches Territorium ausgeweitet, türkische Luftangriffe zielen auf Stellungen von kurdischen Volksverteidigungseinheiten im Nordosten des Landes. Die Türkei setzt darüber hinaus verbündete Dschihadistengruppen und selbst Wasser als Waffe gegen die kurdische Selbstverwaltung ein. Rußland attackiert Ausbildungslager und Stellungen der Terrororganisation Hay’at Tahrir al-Sham in der nordwestlichen Provinz Idlib. US-amerikanische Kampfdrohnen jagen und töten Al Qaida-Kämpfer.

Politische Verhandlungen stocken

Politische Verhandlungen zwischen der syrischen Regierung, zivilgesellschaftlichen Gruppen und Oppositionellen unter dem Dach der UNO in Genf stagnieren. Teile der Oppositionellen suchen und erhalten Unterstützung in der EU und in den USA. Weil man aber dort weiterhin auf Konfrontation gegen Damaskus und seine Partner Rußland, Iran und die Hisbollah im Libanon setzt, gibt es keine Fortschritte im innersyrischen Dialog.

Im Rahmen der Astana-Verhandlungen können Konflikte am Boden entschärft werden. Wiederholt kam es auch zu Gefangenenaustausch. Einzelheiten werden weder von der einen noch von der anderen Seite bekannt, Beteiligte sowohl an den Astana-Gesprächen als auch in Genf sprechen von »großem Mißtrauen« zwischen den syrischen Akteuren.

Annäherung der arabischen Golfstaaten

Perspektive für Syrien bietet aktuell die Annäherung der arabischen Golfstaaten und deren Einladung an Damaskus, im März 2022 am Gipfeltreffen der Arabischen Liga teilzunehmen. Die Mitgliedschaft Syriens in der arabischen Staatenallianz war 2011 ausgesetzt worden. Die Annährung an Syrien wird von den Vereinigten Arabischen Emiraten vorangetrieben, um »die arabische Rolle« innerhalb Syriens zu stärken, wie es heißt. Die VAE wollen damit sowohl das Vordringen der Türkei im Norden des Landes als auch den Einfluß des Iran zurückdrängen.

Die EXPO in Dubai (1. Oktober 2021 – 31. März 2022) bot syrischen Besuchern visafreie Sonderkonditionen, um die Ausstellung zu besuchen, wovon zahlreiche Familien Gebrauch machten, um Angehörige zu treffen, die sie viele Jahre nicht gesehen hatten. Im November 2021 reiste VAE-Außenminister Sheikh Abdullah bin Zayed nach Damaskus. Neben einem Investitionsabkommen zum Bau einer Photovoltaikanlage hatte der Minister auch eine Einladung für den syrischen Präsidenten Baschar al Assad nach Abu Dhabi im Gepäck, um sich dort mit Khalife Bin Zayad Al Nayan zu treffen, dem amtierenden Präsidenten der Emirate.

Anfang Dezember gab das syrische Energieministerium bekannt, daß Damaskus 2024 die Arabische Energiekonferenz ausrichten werde. Zuvor hatten sich die Mitgliedstaaten der Organisation der arabischen Erdölexportierenden Staaten einstimmig dafür ausgesprochen.

Wirtschaftskrise

Die Lage der Bevölkerung bleibt schwierig. Gegenüber dem US-Dollar hat das syrische Pfund (SYP) kontinuierlich an Wert verloren, die Preise für Grundnahrungsmittel und Transport steigen. Die syrische Zentralbank mußte offiziell den Umtauschkurs des syrischen Pfundes auf 2.500 pro US-Dollar anheben. Vor dem Krieg 2011 bezahlte man pro US-Dollar 50 syrische Pfund.

Schwer zu verkraften für die Bevölkerung ist die Verdoppelung des Preises für einen Gaszylinder (10 kg) auf 9.700 SYP. In syrischen Haushalten wird mit Gas gekocht, doch das durchschnittliche Monatseinkommen von Beschäftigten im öffentlichen Dienst liegt bei rund 90.000 SYP. Für eine fünfköpfige Familie reicht das Geld nicht mehr als zehn Tage. Auch die Anhebung der Preise für Benzin und Heizöl übersteigt die Möglichkeiten eines normalen Monatseinkommens bei weitem. UNO-Hilfsorganisationen geben an, daß 13,4 Millionen Syrer auf Hilfe angewiesen sind.

Nicht nur die Kriegsfolgen und die große Zahl von abgewanderten Akademikern, Wissenschaftlern und Fachkräften sind für die schlechte Wirtschaftslage des Landes verantwortlich. Vor allem ist es der westliche Wirtschaftskrieg, der das Land am notwendigen Wiederaufbau hindert.

Westliche Sanktionen treffen die Schwächsten

Im Frühsommer 2011 verhängte die EU einseitige »wirtschaftliche Strafmaßnahmen« mit dem Ziel, »die Repression in Syrien zu stoppen«. Heute ist daraus ein unübersichtliches bürokratisches Regelwerk geworden, das sich gegen 287 Personen und 70 Organisationen richtet. Betroffen sind alle Regierungsmitglieder, viele staatliche Organisationen, die syrische Zentralbank und eine große Zahl Geschäftsleute. Gegen sie bestehen Einreiseverbote in Länder der EU. Persönliche, Unternehmens- und staatliche Vermögenswerte in der EU wurden eingefroren. Es bestehen Investitions- und Einfuhrverbote für Erdöl und Technologie. Unternehmer, die Ersatzteile von Firmen aus EU-Ländern für ihre Textil- oder Druckmaschinen oder für die Medikamentenherstellung importieren wollen, müssen sich durch einen Dschungel von Papier schlagen, um am Ende vielleicht doch keine Genehmigung zu erhalten.

Schwindelerregende Wirtschaftskrise« durch USA-Gesetz

Die EU-Sanktionen ergänzen sich mit dem so genannten »Caesar-Gesetz«, das die USA gegen Syrien 2020 erlassen haben. Danach können nicht nur syrische, sondern alle Unternehmen, Staaten und Organisationen bestraft werden, die mit Syrien Handel treiben. Ein Bericht der US-amerikanischen Agentur für Internationale Entwicklung (USAID) stellte im Juli 2021 fest, daß die Sanktionen der USA erheblich zur Abwertung des syrischen Pfundes beigetragen und eine »schwindelerregende Wirtschaftskrise« ausgelöst hätten. Der durch die Sanktionen aufgrund des Caesar-Gesetzes blockierte Außenhandel führe zu einem Anstieg des illegalen Handels und fördere Korruption und Schwarzmarkt, so der Bericht, auf den der stellvertretende Botschafter der Russischen Föderation bei der UNO, Dmitri Tschumakow bei der Sitzung des UNO-Sicherheitsrates am 15. September 2021 in New York hinwies. Der USAID-Bericht befaßte sich mit den Auswirkungen der COVID-19-Pandemie auf die Lage in Syrien zwischen Juli 2020 und Juli 2021.

Scharfe Kritik an den einseitigen wirtschaftlichen Strafmaßnahmen kommt von der UNO-Sonderberichterstatterin Alena Douhan, die in den betroffenen Ländern die Auswirkungen der Sanktionen auf die Menschenrechte untersucht. Alena Douhan argumentiert, daß diese einseitigen Strafmaßnahmen eine Verletzung der Menschenrechte darstellen und besonders die Schwächsten in einer Gesellschaft treffen.

Der Wertverlust des syrischen Pfundes führt in rasanter Geschwindigkeit zur Verarmung. Krankenhäuser können nicht oder nur teilweise und langsam renoviert werden, medizinisches Personal ist knapp. Diabetes oder Krebserkrankungen können aufgrund des Mangels an Medikamenten nur unzureichend behandelt werden. Verschärft wird die wirtschaftliche Lage durch die völkerrechtswidrige Besetzung der syrischen Ölfelder durch die USA-Armee, die auch 2021 nicht aufgehoben wurde.

Auch die Nachbarländer sind betroffen

Die von der EU und den USA einseitig verhängten wirtschaftlichen Strafmaßnahmen und Sanktionen haben auch in den Nachbarländern Syriens gravierende Auswirkungen. Der Libanon durchlebt seit zwei Jahren eine massive Wirtschaftskrise. Jordanien hat in den zehn Jahren seit Beginn des Krieges in Syrien einen so massiven wirtschaftlichen Einbruch zu verzeichnen gehabt, daß König Abdallah II. persönlich nach Washington reiste, und Präsident Joe Biden aufforderte, die Caesar-Sanktionen auszusetzen. Ende August 2021 stimmten die USA in der Weltbank einem Antrag zu, wonach der Transport von ägyptischem Naturgas durch die Arabische Gas Pipeline durch Jordanien und Syrien in den Libanon zugelassen und finanziell abgesichert werden solle.

Ein Anfang September in der Provinz Deraa vereinbarter Waffenstillstand mit den letzten bewaffneten Regierungsgegnern in Deraa hat bis heute Bestand und wurde von einem Versöhnungs- und Wiedereingliederungsangebot an ehemalige Kämpfer abgesichert. Die Arabische Gas-Pipeline, die durch die Provinz Deraa, Damaskus und Homs verläuft, bevor sie nach Tripoli im Nordlibanon abzweigt, wurde von syrischer Seite wieder in Stand gesetzt. Der Transport des Gases soll Ende 2021 wieder aufgenommen werden.

Rückkehr trotz Problemen

Syrien und Rußland fördern und beobachten mit einem bilateralen Komitee die Rückkehr von Syrern aus dem Ausland. 13 Grenzübergänge seien rund um die Uhr geöffnet, hieß es anläßlich einer Konferenz Mitte November 2021 in einer Erklärung des russischen Verteidigungsministeriums. Demnach sind insgesamt 2.326.000 Syrer in ihre Heimat zurückgekehrt. 952.000 kamen aus dem Ausland, 1.272.000 syrische Inlandsvertriebene konnten in ihre ursprünglichen Orte zurückkehren. Bei einem Treffen des Norwegischen Flüchtlingsrates und dem syrischen Außenministerium in Damaskus wurde Anfang Dezember die Kooperation bei der Rückkehr von Flüchtlingen bekräftigt.

Gleichzeitig wird die Rückkehr syrischer Flüchtlinge faktisch dadurch sabotiert, daß die EU Milliarden von Euro an die Türkei überweist, die vor allem für die Versorgung von Syrern eingesetzt werden sollen, die in den Jahren des Krieges in türkischen Flüchtlingslagern gestrandet sind. Die EU-Länder, insbesondere Deutschland, sind zudem daran interessiert, gut ausgebildete syrische Fachkräfte von der Rückkehr nach Syrien abzuhalten und sie für die eigene Wirtschaft auszunutzen. Auch die Unterstützung der syrischen Opposition durch Deutschland und weitere EU-Länder trägt dazu bei, daß bei den Genfer Gesprächen bisher kein Ergebnis erzielt werden konnte.