Ausland05. Oktober 2023

Endgültig im System angekommen

Griechische SYRIZA wählt neuen Parteichef. Kasselakis ist Ex-Goldman-Sachs-Investmentbanker und Zögling von Thinktanks der USA

von Hansgeorg Hermann, Chanià

Bis zum 29. August war der Mann – Stefanos Kasselakis, 35 Jahre jung – in Griechenland unbekannt. Ein hochgewachsener, schlanker Typ mit strahlendem Lächeln – ein Kandidat wie aus dem USA-Fernsehen. Einer, auch das wäre in den USA inzwischen ein Vorteil, der sich als erster griechischer Bewerber um ein Partei- und Staatsamt, zu seiner Homosexualität bekennt. Seit dem 24. September ist der Sohn einer Reederfamilie, selbst Unternehmer im Überseegeschäft, der neue Chef einer Bewegung, die vor gut 25 Jahren als »Koalition der radikalen Linken« antrat. Unter ihrem bisherigen »Proedros«, dem Parteipräsidenten Alexis Tsipras, war SYRIZA bis zu dessen Rücktritt nach der katastrophalen Wahlniederlage im Juni – mit gutem Willen betrachtet – eine Programmpartei.

Blaupause USA

Kasselakis’ Wahl macht aus Syriza einen »Präsidentenwahlverein« nach USA-Vorbild. Der »linke« Parteiflügel ist die Minderheit in einer auseinanderstrebenden Formation, in der sich 2014 mehr als 20 Gruppen, die sich als »Linke« bezeichneten, zu einer regierungswilligen Partei zusammenschlossen und 2015 für magere vier Jahre tatsächlich ganz demokratisch die politische Macht eroberten, weil die Griechen die Gängelei und den Verlust der Haushaltshoheit satt hatten. Kasselakis ist eine Art Verweser dieser Partei.

In beiden Wahlgängen hob ihn die um 35.000 neue Mitglieder angewachsene SYRIZA-Gemeinde auf den ersten Platz. Eine Woche zuvor noch mit 45 Prozent, am 24. September dann mit der absoluten Mehrheit von 56,69 Prozent. Seine Mitbewerberin, die 38 Jahre alte frühere Arbeitsministerin Eftychia »Efi« Achtsioglou, die den parteiinternen Wahlkampf gegen alte Parteigrößen wie Tsipras’ früheren Wirtschafts- und Finanzminister Euklid Tsakalotos eigentlich schon gewonnen hatte, unterlag dem plötzlich in der Arena aufgetauchten Kasselakis geradezu sensationell mit 43.31 Prozent.

Teilnehmen an der Abstimmung durften alle einschlägig Interessierten, unabhängig von einer formalen Mitgliedschaft in der Partei. Man mußte nur schlappe 2 Euro online überweisen. In der ersten Runde nahmen 149.000 Wähler teil, in der zweiten waren es noch 134.000.

Kasselakis hatte zuvor eine sehr offensive und teure Medienkampagne in Griechenland lanciert und versprochen. SYRIZY in eine »moderne Partei« nach dem Vorbild der Demokratischen Partei in den USA umzugestalten um auf diesem Wege wieder die Regierung des Landes zu übernehmen.

Den Sieg in der Tasche verkündete der »Amerikaner«, der in den USA Karriere als Investmentbanker machte, was er offenbar für ein Programm hält: »Ich bin kein Phänomen«, was ihm bis dato auch niemand unterstellt hatte, »ich bin die Stimme des Volkes«. »Die Tatsache, daß einer wie Kasselakis überhaupt als Kandidat antreten konnte, beschreibt den völligen ideologischen Verfall des SYRIZA«, sagte Stathis Kouvelakis, bis 2015 einer der wenigen Intellektuellen im Zentralkomitee der Partei.

Abziehbild von Mitsotakis

Ein Rätsel bleibt, wie der Mann, der nicht einmal die – politisch und diplomatisch wichtigen – Feinheiten der griechischen Sprache beherrscht, es offenbar gegen den amtierenden rechten Ministerpräsidenten richten soll, wenn in vier Jahren wieder gewählt wird. Parteikader und auch das SYRIZA-Wahlvolk – rund 134.000 gingen an die Urnen, knapp 15.000 weniger als beim ersten Mal – erkennen in Kasselakis offenbar einen zweiten, 20 Jahre jüngeren Mitsotakis, dem er wie ein Abziehbild gleicht. Ohne allerdings auch nur annähernd so gut in der Gesellschaft der Oligarchen, Clanchefs und Wirtschaftsmilliardäre vernetzt zu sein.

Sein politischer Wahlhelfer war in den vergangenen Tagen und Wochen der kretische Parlamentsabgeordnete Pavlos Polakis, der einzige Gewinner eines SYRIZA-Mandats in der Hafenstadt Chanià. Polakis ist der ehemalige Bürgermeister in Chora Sfakion, wo noch die schwarz gekleideten Hirten Familienzwist mit der Waffe in der Hand bereinigen. Er ist möglicherweise der richtige politische »Koumparos« (der Pate), um den »Amerikanos« auch im griechischen Hochland akzeptabel zu machen: In Chanià jedenfalls fuhr Kasselakis eine Zweidrittelmehrheit ein.

Mitsotakis ist nicht nur der Name einer seit hundert Jahren höchst einträglich das politische Geschäft betreibende Dynastie. Der Name ist ein Begriff wie »König«, »Kaiser« oder »Imperator«, Synonym für eine Politik des Gebens und des Nehmens, der bis in die türkische Besatzungszeit zurückreichenden Klientelwirtschaft, der »Rousfetia« genannten Gefälligkeiten zwischen Wirtschaftsbossen, Geldhäusern und im oberen Niveau arbeitenden Politikern.

Da wird Kasselakis, die »Stimme des Volkes«, noch viel zu lernen haben – in der Partei hat sich sein Vorgänger als Lehrer angeboten. Der Mann also, dem der Kniefall vor den Brüsseler Finanzkapitalisten anhängt und dessen völlige Kapitulation vor der EU-Kommission und vor der ohne jegliche demokratische Legitimierung nach Athen ausgesandten Troika den Untergang der »linken« Partei SYRIZA bereits im Juni 2015 einleitete. Die sogenannten Geldgeber, die mit rund 175 Milliarden Euro die griechischen Banken, nicht aber die Volkswirtschaft retteten, forderten 2015 die »vollständige Kapitulation«, wie sich der SYRIZA-Mann und Ökonom Costas Lapavitsas (Universität London) erinnert. Tsipras unterschrieb sie.

Hoffnungsloser Fall

Der Privatgelehrte Stathis Kouvelakis war Hochschullehrer am Londoner King’s College. Vor einigen Wochen hat er im Gespräch mit dem Autor zu deuten versucht, warum SYRIZA, die Partei, die im Januar 2015 in Griechenland und in anderen EU-Ländern, ganz besonders auch bei der »Schwesterpartei« in Luxemburg als »linke Hoffnungsträgerin« galt, seit rund fünf Jahren keinerlei politischen Kredit mehr im eigenen Land hat. Kouvelakis, damals Mitglied des Zentralkomitees von SYRIZA, sprach von der Katastrophe, die Tsipras mit seinem Kniefall vor dem Brüsseler Finanzkapitalismus über seine Anhänger und Wähler gebracht hatte.

Alexis Tsipras machte aus dem Land eine im Wortsinn »hoffnungslose« Gesellschaft, deren Löhne, Renten und Monatseinkommen auf die Hälfte reduziert wurden. Was dem »Amerikanos« Stefanos Kasselakis dazu einfallen wird, bleibt offen – er hat Kapitalismus ja in den USA gelernt.

Immer fleißig lächeln

Stefanos Kasselakis und sein Partner Tyler McBeth lächeln unbekümmert vor Kameras und stirnrunzelnden Popen der orthodoxen Kirche. Ihr Hund immer dabei, der offenbar auch Teil des Parteiprogramms werden soll: Tierschutz steht im eher leicht gestrickten Orientierungspapier direkt neben den Forderung nach Trennung von Kirche und Staat.

Die allerdings ist ein Thema, das selbst ausgewiesene Atheisten und Verächter des sonntäglichen Mummenschanzes seit einigen Dekaden nie ernsthaft angefaßt haben. Selbst dann nicht, als die eng mit den Orthodoxen verbandelte Militärdiktatur 1974 abdanken mußte und sich Gelegenheit geboten hätte. 95 Prozent der Griechen sind eingeschriebene Kirchenmitglieder, keine Hochzeit, Taufe oder Bestattung geht ohne einen der bärtigen Popen über die Bühne – neue Abgeordnete, Minister und der Regierungschef werden – mitten im Plenarsaal – vom Athener Metropoliten und seinen vier bis fünf Assistenten auf das Testament vereidigt.

Mehr Kirchenstaat geht in Europa nicht. Sorgen muß sich der kühne Antragsteller Kasselakis nicht machen. Die erforderliche Zweidrittelmehrheit wird es für seine Blasphemie nicht geben, die Kirche ist Verfassungsorgan, Gott und seine Heerscharen sind Alpha und Omega in der Konstitution der »Elleniki Dimokratia«.

Zweifel werden allerdings aufkommen, wenn die bisher eher uninteressierte Mehrheit der elf Millionen Griechen von den wirklichen Linken, den Politikern, Mitgliedern und Anhängern der Kommunistischen Partei Griechenlands (KKE), dem »Amerikanos« täglich seine edukativen Wurzeln und seine in Übersee erfolgte Sozialisation um die Ohren hauen werden.

Im Alter von 14 Jahren kehrte er der Heimat den Rücken, also im Jahr 2002, als das Land im Größenwahn und unter der Leitung des Mitsotkis-Klans die im finanziellen Fiasko endenden Olympischen Spiele für 2004 an Land zog.

In den USA kassierte er das Diplom an der privaten Universität von Pennsylvania und der »elitären« Wharton School für Mathematik. Später war er Wahlhelfer des heutigen USA-Präsidenten Joseph Biden. Zweifelloser Höhepunkt seiner Arbeit war bei den Investmenthaien der Großbank Goldman Sachs – damals betrügerische Beraterin der Athener Regierung – sowie im reaktionären Thinktank Center for Strategic and International Studies (CSIS); eine Institution, die das USA-Kriegsministerium berät und von den wichtigsten Waffenschmieden der USA finanziert wird. Milliarden fließen an das CSIS aus den mit Kriegsprofiten gestopften Kassen der Konzerne Northrop Grumman, Lockheed Martin, Boeing, General Dynamics, Raytheon und General Atomics.

Kein Problem offenbar für Kasselakis, der sich nun auf den Weg macht, in vier Jahren seinen Bruder im Geiste, den rechten Führer Kyriakos Mitsotakis abzulösen. Eine »linke« Partei brauche es dafür nicht, sagen die politischen Auguren in Athen. Nur einen Hund und ein strahlendes Lächeln.