Ausland26. März 2021

EU im Impfstoffkrieg

EU veranlaßt Hausdurchsuchung bei Impfstoffhersteller. EU-Exportkontrollen kosten in der globalen Vakzinproduktion wertvolle Zeit. Mitgliedstaaten erster und zweiter Klasse

von German Foreign Policy

Die schweren Versäumnisse der EU bei der Beschaffung von Covid-19-Impfstoffen haben die Europäische Union vor ihrem Gipfel in neue Konflikte getrieben. Zwischen den EU-Staaten wachsen die Spannungen, da bei der Verteilung der knappen Vakzine ärmere Länder benachteiligt werden. Zudem gibt es Streit, weil eine wachsende Zahl an EU-Mitgliedern begonnen hat, auf nationaler Ebene zusätzlich Vakzine aus Rußland zu erwerben.

Mitgliedstaaten zweiter Klasse

Gravierende Versäumnisse bei der Impfstoffbeschaffung und die Unfähigkeit, die nächste – dritte – Welle der Pandemie einzudämmen, treiben die EU in neue innere und äußere Konflikte. So schwillt zwischen den Mitgliedstaaten der Streit um die Verteilung der knappen Vakzine an. Mehrere ärmere EU-Länder hatten das ihnen zustehende Kontingent an dem teuren BioNTech/Pfizer-Impfstoff nicht komplett erworben und stattdessen auf das kostengünstigere AstraZeneca-Vakzin gesetzt, dessen Lieferung sich nun aber verzögert; die übrig gebliebenen BioNTech/Pfizer-Dosen wurden von wohlhabenden Mitgliedstaaten aufgekauft.

Daran liegt es, daß etwa Lettland, Bulgarien und Kroatien bei den Impfungen deutlich hinter den ohnehin niedrigen EU-Impfquoten zurückbleiben. Österreichs Bundeskanzler Sebastian Kurz verlangte vor dem EU-Gipfel eine Kurskorrektur und warnte, sofern »die Kluft ... bei der Durchimpfung der Bevölkerung« weiter zunehme, schaffe man »Mitgliedstaaten zweiter Klasse«.

Kalter Impfstoffkrieg

Zusätzlich wachsen die inneren Spannungen in der EU, weil immer mehr Mitgliedstaaten dazu übergehen, wegen des andauernden Impfstoffmangels ergänzend Vakzine aus Rußland und China zu beschaffen – auf nationaler Ebene abseits des gemeinsamen Beschaffungsprojekts der EU. Ungarn hat damit trotz starken Unmuts in Brüssel schon im Januar begonnen und inzwischen eine der höchsten Impfquoten in der EU erreicht. Polen wiederum lehnt den Kauf des russischen Vakzins Sputnik V dezidiert ab – aus politischen Gründen.

In der Slowakei wiederum hat die Entscheidung von Ministerpräsident Igor Matovič, zwei Millionen Dosen Sputnik V zu bestellen, eine Regierungskrise ausgelöst, weil Teile der Koalition geostrategische Erwägungen über den Schutz menschlichen Lebens stellen: Man solle auf das Vakzin verzichten, weil es »ein Instrument des hybriden Kriegs« sei, den Rußland gegen den Westen führe, verlangte Außenminister Ivan Korčok.

Unter dem Druck des ungebrochenen Impfstoffmangels gehen inzwischen freilich auch einige westeuropäische Länder, unter ihnen Deutschland, dazu über, einen nationalen Erwerb von Sputnik V vorzubereiten. Das schwächt, da die EU-Kommission die Beschaffung des russischen Vakzins ablehnt, den Zusammenhalt der EU.

Exportstopp möglich

Gleichzeitig eskalieren äußere Konflikte. So trifft die Verschärfung der Impfstoff-Exportkontrollen, die die EU-Kommission am Mittwoch vorgestellt hat, international weithin auf Unverständnis. Sie sieht vor, bisherige Ausnahmen von der zum 1. Februar eingeführten Genehmigungspflicht für Impfstofflieferungen aufzuheben; demnach müssen in Zukunft auch Exporte in verbündete Staaten, darunter Norwegen, die Schweiz oder Israel, ausdrücklich gestattet werden.

Zudem werden die Zulassungsregeln für Ausfuhren schärfer gefaßt; so sollen Genehmigungen davon abhängig gemacht werden, ob die EU aus dem betreffenden Zielland ihrerseits Vakzine erhält und ob dort die Pandemielage besser ist als in der EU. In Abhängigkeit davon werden gegebenenfalls Exportstopps verhängt. Kürzlich hatte die EU-Kommission eine Lieferung von 250.000 AstraZeneca-Impfdosen aus Anagni südöstlich von Rom nach Australien untersagt – dies mit der Begründung, in Australien sei die Pandemie so erfolgreich bekämpft worden, daß das Land auf die Impfdosen verzichten könne.

Faktisch richtet sich die Exportstoppdrohung vor allem gegen Britannien, dessen Impfkampagne erfolgreich verläuft, und gegen den Impfstoffhersteller AstraZeneca.

Hausdurchsuchung in der Abfüllfabrik

Inzwischen hat die Kommission dieser Drohung Nachdruck verliehen und eine Hausdurchsuchung durch die italienischen Carabinieri in der Fabrik in Anagni veranlaßt, die AstraZeneca-Dosen in Flaschen abfüllt und sie dann verschickt. Zur Begründung hieß es, dort lagerten 29 Millionen AstraZeneca-Dosen, die der Konzern vertragswidrig nach Britannien »schmuggeln« wolle; Medien schrieben, der Konzern habe das Vakzin »heimlich« in der Abfüllfabrik »versteckt«.

Laut Angaben von AstraZeneca stammen 16 Millionen der in Anagni auf die übliche Freigabe durch die Qualitätskontrolle wartenden Impfdosen aus dem Werk im niederländischen Leiden, das – neben einem Werk im belgischen Seneffe – das Vakzin für die EU produziert; demnach sind die Dosen zur Auslieferung an EU-Länder bestimmt, dürfen aber noch nicht verimpft werden, weil die Zulassung der EU für das niederländische Werk bis heute fehlt. Die übrigen 13 Millionen Dosen in Anagni wurden laut AstraZeneca außerhalb der EU produziert und in Italien lediglich abgefüllt; sie sind für die globale Covax-Initiative bestimmt.

Die Hausdurchsuchung hat ergeben, daß die Angaben zutreffen; das haben am Mittwoch die italienische Regierung und EU-Binnenmarktkommissar Thierry Breton bestätigt.

Die Politik des Verdachts

Noch im Dezember hatte EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen – zum wiederholten Mal – großspurig verkündet, die EU habe »mehr als genug Dosen für alle in Europa gekauft«, und sie sei sogar »in der Lage ..., unsere Nachbarn und unsere Partner auf der ganzen Welt zu unterstützen, damit niemand zurückgelassen wird«. Jetzt hat die EU nicht nur einen ersten Impfstoffexportstopp verhängt und ihre Ende Januar eingeführten Exportkontrollen verschärft, sondern bereits zum zweiten Mal ein Unternehmen polizeilich durchsuchen lassen, das zur europäischen Produktionskette von AstraZeneca gehört.

Beide Durchsuchungen ergaben, daß die zugrundeliegenden Vorwürfe völlig gegenstandslos waren. Die Kommission läßt dennoch nicht davon ab, Verdacht zu säen: Ein EU-Vertreter verbreitete am Mittwoch, AstraZeneca habe womöglich nur einen Zusammenbruch der EU-Exportkontrollen abwarten wollen, um die Impfdosen dann »illegal« nach Britannien »zu schmuggeln«. Einen Beleg für die bemerkenswerte Anschuldigung trug der namentlich nicht genannte EU-Funktionär nicht vor.

Zeitverlust dank der EU

Unter westlichen Impfstoffherstellern sorgen die EU-Exportkontrollen und die wiederkehrenden polizeilichen Durchsuchungen für Nervosität; sie drohen die Impfstoffherstellung ernsthaft zu beeinträchtigen. Das bestätigte ein mit der Materie befaßter Diplomat am einen Tag vor dem Gipfel dem Onlineportal »Politico Europe«. Demnach schmieden die Hersteller inzwischen Pläne, Rohmaterialien, die für die Vakzinproduktion benötigt werden, verteilt auf der ganzen Welt zu lagern, um im Fall eines EU-Exportstopps nicht lahmgelegt zu sein. Die Gefährdung der höchst sensiblen Lieferketten, die von den EU-Machenschaften ausgeht, führt damit zu Verzögerungen im Produktionsablauf, und sie verursacht so bei den globalen Impfkampagnen den Verlust wertvoller Zeit: Sie kostet Menschenleben.