Ausland

»Bedeutung der nationalen Einheit nicht unterschätzen«

Ein Antrag auf staatliche Anerkennung Palästinas durch die UNO wirft eine Reihe von Fragen auf. Ein Gespräch mit Mustafa Barghouti

Mustafa Barghouti ist Arzt, Vorsitzender und Abgeordneter der linksalternativen Palästinensischen »Nationalen Initiative Al Mubadara« und Aktivist der globalisierungskritischen Sozialforumsbewegung. Bei den Präsidentschaftswahlen im Januar 2005 erzielte er mit 19,8 Prozent der Stimmen hinter Amtsinhaber Mahmud Abbas das zweitbeste Ergebnis. Das Interview führte Raoul Rigault

Es wird damit gerechnet, daß der Präsident der Autonomiebehörde, Mahmud Abbas, am Freitag in der UNO-Generalversammlung den seit Monaten angekündigten Antrag auf Vollmitgliedschaft stellt. Damit würde Palästina als Staat in den 1967 von Israel besetzten Gebieten international anerkannt. Was halten Sie von einer solchen Initiative ?

Nach Jahrzehnten der Besatzung verlangen alle Palästinenser Freiheit und Unabhängigkeit. Dennoch gibt es bezüglich dieser Initiative Klärungsbedarf : Ist sie ein taktischer Schachzug oder ein strategisches Projekt zur Gründung des Staates Palästina ? Letzteres würde aber die Einbeziehung der Volkskomitees, der Bewegungen gegen die israelische Mauer sowie derjenigen Verbände voraussetzen, die den Boykott Israels und seiner Siedlungen organisieren.

Schließen Sie sich damit jenen Kritikern an, die Abbas vorwerfen, einsame Entscheidungen getroffen zu haben ?

Ein solcher Plan muß sich auf die breitestmögliche Beteiligung der palästinensischen Gesellschaft stützen. Die Bedeutung der nationalen Einheit darf außerdem in einer so heiklen Phase wie der jetzigen nicht unterschätzt werden – seit den Kämpfen zwischen Fatah und Hamas im Jahre 2007 gibt es sie nämlich nicht mehr.

Abbas versichert, daß die Anerkennung des Staates Palästina in der UNO auf dem Territorium der Westbank, Gazas und Ostjerusalems nicht das Ende der PLO bedeutet. Auch nicht den Verzicht auf das Rückkehrrecht der Flüchtlinge. Ist das glaubwürdig ?

Das ist das, was die Palästinenser von jeder Führung erwarten.

Die israelische Regierung warnt die UNO-Mitgliedstaaten vor einer Anerkennung unter anderem mit dem Argument, daß dies eine neue Welle der Gewalt auslösen würde. Was sagen Sie dazu ?

Der Alarm bezüglich angeblich drohender palästinensischer Gewalt ist reine Propaganda, die Israel als Opfer einer von Palästinensern und Arabern gewollten Eskalation darstellen will. Alle in den kommenden Tagen geplanten Demonstrationen werden friedlich sein, und Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu weiß das sehr gut.

Rechnen Sie damit, daß sich auch die israelische Friedensbewegung für die Anerkennung Palästinas einsetzt ?

Das bezweifle ich. Zwar habe ich die Unterstützung durch israelische Demokraten immer für wichtig gehalten – leider hat die Mehrheit derjenigen, die sich als Pazifisten verstehen, in letzter Zeit ein distanziertes Verhältnis zu uns an den Tag gelegt. Es gibt aber mittlerweile kleine Gruppen von Friedensaktivisten, die aufrichtig und mit klaren Positionen gegen die Besatzung und den Bruch internationalen Rechts kämpfen. Das sind vor allem Jugendliche ; ich hoffe, daß sie in Israel mehr Einfluß bekommen.

Ein bevorzugter Einwand gegen die sofortige palästinensische Unabhängigkeit ist, daß die im Gazastreifen regierende Hamas Israel nicht anerkennt …

Es ist zur Genüge bekannt, daß die israelische Regierung immer nur Zeit gewinnen will, um den Status quo zu verlängern. Warum aber sollten wir ihre Vorstellungen akzeptieren, wenn sie schon vorher zur Auflage macht, daß der palästinensische Staat entmilitarisiert und Jerusalem nicht geteilt werden ? Netanjahu und seine Minister wissen genau, daß der Siedlungsbau auf palästinensischem Boden illegal ist. Das ist für sie völlig in Ordnung – die Nichtanerkennung durch die Hamas hingegen nicht. Ich denke, Hamas wird Israel anerkennen, sobald Israel auch den Staat Palästina anerkennt.

Im übrigen kann sich Tel Aviv ein derartiges Verhalten nur erlauben, weil die Regierungen Europas und der USA zu ängstlich sind, um den pro-israelischen Lobbys auf die Füße zu treten. Wir Palästinenser werden unseren Kampf fortsetzen. Etwas anderes bleibt uns gar nicht übrig.