Ausland18. Dezember 2024

Eine Katastrophe in Frankreichs ärmstem Departement

Wirbelsturm »Chido« hat auch innenpolitische Folgen

von Ralf Klingsieck, Paris

Nach dem verheerenden Wirbelsturm »Chido«, der am Samstag mit bis zu 220 km/h über die immer noch zu Frankreich gehörende Inselgruppe Mayotte fegte und wahrscheinlich mehrere hundert Tote und gewaltige materielle Schäden hinterließ, laufen in Frankreich die Hilfsmaßnahmen an. Kompliziert ist es vor allem, die 10.000 Kilometer zwischen Frankreich und dem Überseedepartement im Indischen Ozean zu überwinden. Eine erste Frachtmaschine mit Hilfsgütern erreichte die Inselgruppe am Sonntag und weitere folgten in in den nächsten Tagen.

Am Montag flog Innenminister Bruno Retailleau nach Mayotte, um sich vor Ort ein Bild von der Lage und dem Bedarf zu machen, zusammen mit 160 Soldaten und Feuerwehrleuten, die die einheimischen Hilfskräfte verstärken sollen. Kompliziert wird die Versorgung der Insel per »Luftbrücke« dadurch, daß der Sturm den Kontrollturm des örtlichen Flugplatzes völlig verwüstet hat und daher Zivilmaschinen dort vorläufig nicht landen können. Personelle und materielle Hilfe aus Frankreich muß daher zunächst zum 1.500 Kilometer entfernten Überseedepartement Réunion und dann weiter per Pendelverkehr transportiert werden, den die Armee mit einer A300-Frachtmachine zwischen Réunion und Mayotte eingerichtet hat. Mit dem Schiff dauert eine Fahrt zwischen beiden Inseln mindestens einen Tag.

Die Hilfe konzentrierte sich zunächst auf die Nahrungsversorgung und auf die Reparatur des Stromnetzes, weil davon auch die Wasserversorgung sowie die Kommunikation per Telefon und Internet abhängen. Die Wiederherstellung kann allerdings bis zu einem Monat dauern.

Am Montagabend fand im Krisenzentrum des Innenministeriums in Paris eine Sitzung unter Vorsitz von Emmanuel Macron statt. Bei dieser Gelegenheit kündigte der Präsident an, daß er sich in den nächsten Tagen nach Mayotte begeben will, und erklärte, daß es für die Opfer einen Staatstrauer-Tag geben wird.

Die Naturkatastrophe mit ihren tragischen Konsequenzen wird umgehend in die innenpolitischen Auseinandersetzungen gezogen. So schrieb Jean-Lux Mélenchon, Chef der Bewegung La France insoumise, auf dem Netzwerk X: »Eine Bevölkerung, die seit langem besonders verletzlich ist und alleingelassen wurde, ist einer schrecklichen Herausforderung ausgesetzt. Die arroganten und unfähigen Machthaber, die sich nur für ihre innenpolitische Nabelschau interessieren, haben nichts vorausgesehen und nichts organisiert.«

Darauf hat Estelle Youssouffa, die Mayotte als unabhängige Abgeordnete in der Pariser Nationalversammlung vertritt, empört reagiert: »In Mayotte ist man noch dabei, die Toten zu zählen, da sind bereits die Aasgeier zur Stelle, um ihr verächtliches politisches Süppchen zu kochen.« Mansour Kamardine, ein ehemaliger Mayotte-Abgeordnete der rechten Partei der Republikaner, gibt zu bedenken, daß »die verschiedenen rechten wie linken Regierungen« seit Jahren viel für Mayotte getan haben, daß aber »ein großer Teil davon im riesigen Trichter der ständig nachwachsenden Probleme verschwunden ist, ohne große Wirkung zu hinterlassen«.

Anchya Bamana, der erste für das rechtsextreme Rassemblement National (RN) gewählte Abgeordnete von Mayotte, behauptet, daß »alles absehbar war« und gibt der illegalen Einwanderung von Ausländern die Hauptschuld für die Misere auf der Inselgruppe. Die Probleme für die Inselbewohner, die sich aus dem seit mehr als zehn Jahren stark steigenden Einwanderungsdruck ergeben haben, hat RN systematisch instrumentalisiert und hat so bei den letzten Parlamentswahlen hier im Schnitt 59 Prozent der Wählerstimmen bekommen.

Mayotte, das aus zwei Inseln mit zusammen nur 374 Quadratkilometern besteht und offiziell 310.000 Einwohner zählt, liegt im Indischen Ozean zwischen Mosambik und Madagaskar. Geographisch und historisch gehörte Mayotte zu den Komoren, die zwischen 1831 und 1948 eine französische Kolonie und dann ein Überseegebiet Frankreichs waren. Während sich die Bevölkerung der meisten Inseln der Komoren bei einer Volksabstimmung 1958 für die Unabhängigkeit entschied, blieb Mayotte bei Frankreich und wurde im Staatsverband das 101. Departement.

Allerdings ist Mayotte seit vielen Jahren das ärmste Departement. Die angespannte wirtschaftliche und soziale Lage hat sich seit mehr als zehn Jahren dadurch weiter verschärft, daß immer mehr Einwohner der Komoren, wo die Entwicklung und die Lebenslage noch schlechter waren, mit Booten illegal nach Mayotte übersetzten, das nur 70 Kilometer entfernt ist. Hier hofften sie Arbeit zu finden und früher oder später eingebürgert und damit Franzosen zu werden. Besonders viele schwangere Frauen kamen, um in Mayotte zu entbinden, damit das Neugeborene gesetzlichen Anspruch auf die französische Staatsangehörigkeit erlangt und damit auch einen Schutzstatus für die Eltern.

Da angesichts eines Mangels an Arbeitsplätzen und vor allem an Wohnungen die Spannungen zwischen den Einwohnern Mayottes und den Einwanderern sowie die damit verbundene Unsicherheit immer mehr zugenommen haben, hat die Regierung in Paris in Abständen große Kampagnen der Erfassung und Abschiebung von Ausländern durchgeführt. Doch die meisten kamen über kurz oder lang wieder zurück. Ihre Zahl schätzt man auf mindestens 100.000. Um sie zu vertreiben, werden seit 2023 immer wieder Elendssiedlungen unter Polizeieinsatz geräumt und mit Bulldozern planiert. Es entstanden und entstehen aber immer wieder neue, und viele davon wurden jetzt durch den Wirbelsturm »Chido« besonders schlimm verwüstet. Die Abgeordnete Estelle Youssouffa schätzt treffend ein, daß es sich bei diesen Armenvierteln um »Massengräber unter freiem Himmel« handelt.