Eine kurze Geschichte des Geldes. Teil 6
Crash hinausgezögert
Boom und Baisse: Die Aufblähung des Finanzsektors verschleppt die Überproduktionskrise
Finanzkrisen sind Spekulationskrisen. Ein Objekt oder eine Gruppe von Objekten, die ihrerseits Finanztitel sein können, aber nicht müssen, heizen aus wichtigem oder nichtigem Anlaß eine Spekulationswelle an. Die bricht zusammen. Alle Beteiligten werden im Aufschwung reicher, in der Krise werden sie nun ärmer. Der plötzliche Geldmangel wirkt sich auch auf die aus, die an der Spekulation gar nicht teilgenommen haben. Die Finanzkrise, die 2007 begann und deren Folgen heute noch nicht überwunden sind, war eine solche Spekulationskrise. Sie war ihrem Umfang nach wohl größer als alles, was die Welt bisher gesehen hatte. Es ging ihr ein Spekulationsboom voraus, der, von relativ kleinen Finanzkrisen, also Rückschlägen unterbrochen, mehr als 30 Jahre gedauert hatte. Es war ein Boom des weltweiten Finanzsektors selbst, der sich in diesen 30 Jahren im Verhältnis zur Realwirtschaft drastisch ausgeweitet hatte.
Alle Formen des Geldes/Kredites stellen in einer Warenwirtschaft Ansprüche auf das Produkt der Gesellschaft dar und machen in ihrer Gesamtheit den Finanzsektor aus. Letztlich aber können diese Ansprüche nicht unabhängig von der Warenproduktion werden. Der Finanzsektor kann nicht abheben oder sich von der Realwirtschaft loslösen. Das heißt, das relativ schnellere Wachstum des Finanzsektors verglichen mit der Realwirtschaft kann nicht für immer weitergehen. Oder wie ein bekannter Ökonomenspruch lautet: »Things that can’t go on forever, don’t« (Was nicht immer so weitergehen kann, geht auch nicht immer so weiter). Man begreift die Finanzkrise am besten als genau diesen Prozeß, daß das schnellere Wachstum des Finanzsektors im Vergleich zur Realwirtschaft an seine Grenzen gestoßen ist. Erklärt werden muß dabei weniger, wie und warum es zu einer solch enormen Störung des kapitalistischen Wirkungszusammenhangs kommen konnte, sondern viel eher, weshalb diese große Krise so lange auf sich hat warten lassen.
Denn auch diese riesige Finanzkrise war im Kern eine stinknormale, für den Kapitalismus übliche Überproduktionskrise. Sie ist Resultat des Grundwiderspruchs zwischen gesellschaftlicher Produktion und privater Aneignung. Dieser Widerspruch drückt sich im Regelfall in kapitalistischen Konjunkturkrisen aus. Sie sind dadurch gekennzeichnet, daß das ungebändigte Wachstum von Kapital und Waren nicht auf genügend kaufkräftige Nachfrage trifft. Die private Aneignung des Mehrprodukts durch die Kapitalisten läßt den gesellschaftlichen Produzenten nicht genügend Wert (Geld), um die munter produzierten Waren zu kaufen. Kapitalistische Krisen sind also Absatz- oder Realisierungskrisen. Wenn man den Neoliberalismus seinem eigenen Programm gemäß als ein Regime begreift, das die Profitrate im jeweils eigenen imperialistischen Lager auf direktem Wege über die Steigerung der Mehrwert- oder Ausbeutungsrate, also durch ganz gemeinen Lohndruck, zu erhöhen trachtet, müßte der oben skizzierte Widerspruch zwischen hohen Profiten und hohen Investitionen einerseits und zurückbleibenden Lohneinkommen andererseits die typische Überproduktionskrise noch schneller als ohnehin zum Ausbruch bringen.
Das aber ist lange nicht geschehen. Ein wichtiger Grund dafür ist, daß das neoliberale Regime den enorm aufgeblähten Finanzsektor entwickelte. Der Finanzsektor absorbierte die rasant steigenden Profitmassen, er erschloß von der gemeinen Mehrwertproduktion scheinbar unabhängige Profitquellen, erhöhte durch die wachsende Verschuldung der Kapitalisten, des Staates und sogar auch der Lohnabhängigen deren Kaufkraft – und die damit steigende Nachfrage verzögerte so die eigentlich fällige Überproduktionskrise. Die überproportionale Ausweitung des Finanzsektors ist damit ein wesentliches Kennzeichen des Neoliberalismus. Es ist deshalb nicht falsch, bei dieser Periode, die mit der Krise der 70er Jahre des vorigen Jahrhunderts einsetzte und deren Ende von der Krise seit 2007 eingeläutet wird, von der eines »finanzmarktgetriebenen« Kapitalismus zu sprechen. Der Finanzsektor spielt in diesem System in vielfacher Hinsicht eine wichtige Rolle. Sein ungeheures Wachstum ist einerseits Resultat der beschleunigten Umverteilung des erarbeiteten Reichtums von unten nach oben. Zugleich dient der Finanzsektor als wichtiger Hebel, um diese Umverteilung von Arm nach Reich zu beschleunigen.
Mit der Aufblähung des Finanzsektors hat es das neoliberale Regime geschafft, über viele Jahre hinweg die eigentlich fällige Überproduktionskrise zu überspielen. Das ist auch der Grund, warum die Finanzkrise zum Auslöser der Weltwirtschaftskrise wurde. Als die Finanzblase platzte, trat die Überproduktion zutage und die Weltwirtschaftskrise begann.
Lucas Zeise
Irgendwann ist Zahltag: Ewig können Spekulanten die Finanzblase nicht aufpumpen (Aktiencrash an der Mailänder Börse, 8. Oktober 2008) (Foto: Daniel Dal Zennaro/EPA-EFE)