Ausland15. Januar 2022

Der Kampf ist noch nicht beendet

Ein Jahr legale Abtreibungen in Argentinien: Feministische Bewegung zieht positive Bilanz trotz anhaltender Probleme

von Manuela Tovar

Ein Jahr nach der Verabschiedung eines Gesetzes zur teilweisen Legalisierung von Abtreibungen haben in Argentinien Frauenverbände und die Kommunistische Partei (PCA) eine überwiegend positive Bilanz gezogen. »Wir sind beachtlich vorangekommen, aber es fehlt noch viel«, sagte die Sekretärin der PCA in der Provinz Salta, Bertha Lozano, der Wochenzeitung »Nuestra Propuesta«.

Am 30. Dezember 2020 hatte der argentinische Kongreß das Gesetz 27.610 über den »freiwilligen und legalen Schwangerschaftsabbruch« verabschiedet, das wenige Wochen später, am 24. Januar 2021, in Kraft trat. Seither haben Argentiniens Frauen sowie »gebärende Menschen mit anderer geschlechtlicher Identität« das Recht, bis zur 14. Schwangerschaftswoche eine Abtreibung vornehmen zu lassen. Nach dieser Frist ist eine Unterbrechung nur noch erlaubt, wenn die Schwangerschaft die Folge einer Vergewaltigung war oder das Leben und die Gesundheit der Schwangeren in Gefahr sind. Nach Angaben des argentinischen Gesundheitsministeriums wurden seither 32.758 Abtreibungen unter sicheren Bedingungen in 1.234 Gesundheitseinrichtungen durchgeführt. Hinzu kamen mehr als 46.000 medikamentöse Schwangerschaftsabbrüche.

Das sei die Errungenschaft eines jahrelangen Kampfes der feministischen Bewegung, sagte Bertha Lozano der Zeitung ihrer Partei. Sie müsse aber ständig verteidigt werden. So versuchten reaktionäre und klerikale Kräfte sowie regionale Behörden, das Recht auf Abtreibungen zu unterlaufen. Ein Mittel dazu ist das vom Gesetz den Ärztinnen und Ärzten eingeräumte Recht, Schwangerschaftsabbrüche »aus Gewissensgründen« zu verweigern. Gerade in katholisch geprägten Gegenden habe das dazu geführt, daß die Möglichkeit für eine legale Abtreibung nach wie vor begrenzt ist. So wurde im September in Salta die Ärztin Miranda Ruiz festgenommen, nachdem sie entsprechend der gesetzlichen Vorgaben einen Schwangerschaftsabbruch durchgeführt hatte. Sie war die einzige Medizinerin gewesen, die im Juan-Domingo-Perón-Krankenhaus von Tartagal solche Eingriffe vorgenommen hatte – ihre anderen Kolleginnen und Kollegen verweigern hilfesuchenden Frauen ihre Unterstützung und werden dabei vom Gesundheitsministerium in Salta unterstützt.

Auch die Ärztin Martha Rosenberg, die vor anderthalb Jahrzehnten die Kampagne für sichere und legale Abtreibungen mitbegründet hatte, sieht sich im Gespräch mit dem alternativen Rundfunksender »Canal Abierto« noch nicht am Ziel. Man spreche von einem tiefgreifenden Kulturwandel in einer Gesellschaft, »in der heterosexistische, patriarchale Stereotypen und eine neoliberale kapitalistische Organisation die konkreten Bedingungen bestimmen, unter denen ein Recht ausgeübt werden kann oder nicht«. So gebe es im Gesetz die Möglichkeit eines ambulanten Schwangerschaftsabbruchs, was eine sehr positive Regelung sei. Manche Mediziner nutzten diese aber dazu, Patientinnen nach Hause zu schicken – wo insbesondere in armen und ländlichen Regionen oft keine gesunden Bedingungen herrschen. Es habe auch Todesfälle gegeben, nachdem Schwangere zu unsicheren Abtreibungsmethoden gegriffen hätten, weil sie nichts von ihren Rechten gewußt oder keine Ansprechpartner in ihrer Nähe hatten.

Es müsse eine massive Aufklärungskampagne gestartet werden, um über das Recht zu informieren und um das Bewußtsein vieler Menschen zu ändern, die nach Jahrhunderten religiöser und patriarchaler Indoktrination Abtreibung als ein Verbrechen ansehen würden, sagte Martha Rosenberg.

Das spiegelt sich auch in den offiziellen Zahlen wider. Während die Abtreibungsrate in der Hauptstadt Buenos Aires bei 5,6 von 1.000 Frauen im gebärfähigen Alter liegt, beträgt sie in Misiones, Formosa und Corrientes nur 0,6. Der Landesdurchschnitt beträgt 3,2.

»Wir haben die Erfahrung gemacht«, sagt Martha Rosenberg weiter, »daß unsere Dreifachlosung – Sexualkunde, um entscheiden zu können, Verhütungsmittel, um nicht abtreiben zu müssen, und legale Abtreibungen, um nicht sterben zu müssen – nach wie vor weit davon entfernt ist, Realität zu werden, obwohl wir dazu seit 16 oder sogar 20 Jahren Gesetze haben.« Um die drei Bestandteile Wirklichkeit werden zu lassen, brauche es auch weiterhin eine politische Bewegung, die mit verschiedenen Mitteln auf den verschiedenen Schauplätzen agiert.