Ausland13. August 2024

Olympiataumel

Anfängliche Skepsis durch wachsende Begeisterung verdrängt

von Ralf Klingsieck, Paris

Die Olympischen Spiele, die am Sonntagabend mit einer eindrucksvollen Abschlußzeremonie im Pariser Stade de France zu Ende gingen, haben alle Erwartungen und Rekorde übertroffen. Mit insgesamt 64 Medaillen, davon 16 in Gold, 26 in Silber und 22 in Bronze, waren die Sportler Frankreichs erfolgreicher denn je. Im Ländervergleich liegen sie an fünfter Stelle nach den USA, China, Japan und Australien. Ihren bisherigen Rekord hatten sie 2008 in Beijing mit 43 Medaillen aufgestellt.

Vor allem dem erfolgreichen Abschneiden der französischen Sportler ist es zu verdanken, daß die Olympischen Spiele von Paris 2024 letztlich auch ein Publikumserfolg wurden. Dabei hatte es anfangs gar nicht danach ausgesehen. Als die diesjährigen Spiele im Jahre 2015 vom IOC an Paris vergeben wurden, zeigte die übergroße Mehrheit der Einwohner keinen Enthusiasmus, sondern eher kritische Skepsis. Sie waren überzeugt, daß die Stadt mit ihrer reizvollen Vielfalt und Geschichte, ihren Kulturdenkmälern und Museen auch ohne diesen Schub das wichtigste Reiseziel des internationalen Tourismus ist und bleibt. Dagegen drohten die Olympischen Spiele mit ihren strengen Sicherheitsmaßnahmen einschneidender für die Wirtschaft und den Alltag der Menschen zu werden als die Corona-bedingten Einschränkungen der Jahre 2020/2021.

Genährt wurden die Befürchtungen durch die entsprechenden Maßnahmen, die nach und nach bekannt wurden. So sollte die Stadt in Zonen mit unterschiedlich hohem Sicherheitsstandard und entsprechend gestaffelten Einschränkungen eingeteilt werden. Dabei durfte man die Zonen rund um die Sportstätten nur mit einem personengebundenen Ticket für einen Wettkampf oder aber mit einem QR-Code betreten, den man Wochen vorher im Internet beantragen mußte. Das galt nicht nur für Personen, die in diesen Zonen wohnen oder arbeiten, sondern auch für Touristen, die mit einer Hotelbuchung, der Eintrittskarte für ein Museum oder der Bestätigung, daß sie in einem Restaurant reserviert hatten, die Notwendigkeit ihrer Anwesenheit nachweisen mußten.

Das war eine besonders kalte Dusche für den Handel und die Gastronomie, die sich von den Olympischen Spielen mehr Touristen und entsprechend mehr Umsatz versprochen hatten. Zumindest diejenigen, die in den Hochsicherheitszonen lagen, mußten mit weniger Kunden rechnen. Das hatte zur Folge, daß etliche Restaurants für die Zeit der Olympischen Spiele nicht wie geplant zusätzliches Personal einstellten, sondern die Rollos herunterließen und Betriebsferien ansetzten. Auch viele Einwohner von Paris nahmen in dieser Zeit Urlaub in ruhigeren Teilen Frankreichs oder im Ausland. Andere zogen sich zur Arbeit per Internet ins Wochenendhaus – falls vorhanden - oder zu Verwandten in der Provinz zurück.

Doch die anfänglich verbreitete ablehnende Stimmung begann bereits am Abend der Eröffnungszeremonie umzuschlagen. Die Begeisterung der Sportler aus aller Welt, die an Bord von Schiffen die Stadt auf der Seine durchquerten, vorbei an Szenen mit Musik und Tanz zur Geschichte und Kultur von Paris und Frankreich, wirkte ansteckend. Das Programm war ganz auf den vielseitig interessierten, multikulturellen und vorurteilsfreien Charakter der Mehrheit der Einwohner von Paris ausgerichtet. Das kam gut an und wurde in den folgenden Tagen von vielen Menschen vor den herabwürdigenden und oft reaktionären und fremdenfeindlichen Angriffen der französischen Rechtsextremen, der katholischen Kirche und einiger ausländischer Medien in Schutz genommen. Daß sich viele Pariser den Geist dieses Eröffnungsprogramms zu eigen machten, gehörte zu einem schon bald einsetzenden Trend, den man mit Staunen beobachten konnte und der aus Olympia-Skeptikern nach und nach Olympia-Fans machte.

Anfangs wurde befürchtet, daß die hohen Preise der Tickets für die Wettkämpfe und das komplizierte Verfahren, mit dem sie per Internet angeboten wurden, viele Sportbegeisterte abhalten würde. Doch mit der Zeit hat sich das normalisiert, nach zehn Tagen waren 9,3 der insgesamt 10 Millionen Tickets verkauft und immer öfter hörte man von Besuchern, die auch zu einem späteren Zeitpunkt noch Tickets für 20-30 Euro kaufen konnten.

Um das soziale Gefälle unter den sportbegeisterten Einwohnern von Paris und Umgebung etwas auszugleichen, haben beispielsweise die Räte des Departements Seine-Saint-Denis und der Stadt Paris viele tausend Ticket gekauft und kostenlos an Kinder und Jugendliche aus Familien mit geringem Einkommen verteilt.

Viele Sportinteressierte haben die wenigen Wettkämpfe ausfindig gemacht, für die man kein Ticket brauchte, weil sie auf Straßen oder in der Seine ausgetragen wurden. Dort haben sie sich rechtzeitig einen Platz gesichert, von dem aus sie die Radrennfahrer, die Geher, die Marathon-Läufer oder die Teilnehmer der Triathlon-Wettkämpfe beobachten konnten.

Doch die übergroße Mehrheit der Olympia-Interessierten war auf die Fernsehübertragungen angewiesen. Diese Bilder und Kommentare liefen auch über die Fernsehbildschirme in den Bistros und auf den Café-Terrassen. In den Fan-Zonen auf dem Rathausplatz, an anderen markanten Punkten der Stadt und in Parks wurden Übertragungen auf riesige Leinwände projiziert und von den dort versammelten vielen hundert Menschen mit Jubel, Pfiffen oder lautstarken Kommentaren begleitet.

Für die Franzosen boten die Spiele viele Höhepunkte, aber über allem standen die Leistungen des 22-jährigen Schwimmers Léon Marchand. Dessen Name war vor den Olympischen Spielen nur einem kleinen Kreis von Sportexperten bekannt gewesen, während jetzt das ganze Land seinen Namen und sein Bild kennt. In atemberaubendem Tempo ließ er in den verschiedenen Schwimmarten seine Konkurrenten zurück und errang vier Goldmedaillen, davon zwei an einem Abend im Abstand von weniger als zwei Stunden. Die Marchand-Euphorie war so groß, daß im Stade de France die Leichtathletik-Wettkämpfe in Abhängigkeit von den Marchand-Schwimmduellen etwas verschoben werden mußten, weil dann die meisten der 80.000 Zuschauer auf ihren Handy-Bildschirm mit der Übertragung aus dem Schwimmstadion starrten.

Ein ganz großer Höhepunkt war auch der Judo-Endkampf in der Kategorie über 90 kg, wo Teddy Riner, der wiederholt zum Sportler des Jahres gewählt wurde, wie schon 2012 in London und 2016 in Rio de Janeiro die Goldmedaille gewann. Großes Echo fanden auch die Wettkämpfe der 17 und 20 Jahre alten Brüder Felix und Alexis Lebrun, die beim Tischtennis die Übermacht der Sportler aus Asien und vor allem aus China ins Wanken brachten.

Nicht zu übersehen war, daß die Begeisterung über die Erfolge der französischen Sportler im Land eine neue Art von Nationalstolz auslöste, einen »linken Patriotismus«, wie es ein Zeitungskommentator nannte, der sich vom traditionellen »rechten Patriotismus«, der nur zu oft zu Überheblichkeit und Chauvinismus tendiert, dadurch unterscheidet, daß er aufgeschlossen-freundschaftlich und völkerverbindend ist. Vorbild waren sicher die Sportler selbst, die sich untereinander sichtlich kameradschaftlich verhielten und einander umarmten und beglückwünschten, auch wenn sie nur Minuten zuvor im Wettkampf gegeneinander all ihre Kräfte eingesetzt hatten.

Wer angesichts der viele tausend Polizisten, Gendarmen, Militärs und privaten Sicherheitsleuten – etwa acht pro Olympia-Teilnehmer – mit einer bedrückenden Atmosphäre gerechnet hatte, war angenehm überrascht. Die Sicherheitskräfte verhielten sich freundlich und zurückhaltend, so daß man sie als Teil der Rahmenbedingungen wahrnahm und akzeptierte, zumal auch die Sicherheitsvorkehrungen als nicht übertrieben empfunden wurden. Insgesamt wurde anerkannt, daß all dies dazu beitrug, daß die Olympischen Spiele ohne ernsthafte Zwischenfälle abliefen.

Der Schub, den Olympia Frankreich und Paris gibt, geht auf jeden Fall über eine gutgelaunte Sommergeschichte hinaus, meint die Zeitung »Les Dernières Nouvelles d'Alsace« in einem Kommentar. Die Spiele hätten Frankreich etwas von dem Stolz und der Zuversicht zurückgegeben, die dem Land in den vergangenen Monaten in der öffentlichen Debatte über die politischen und gesellschaftlichen Spaltungen, die sozialen Sorgen und den befürchteten Niedergang des Landes verloren gegangen sind.

»Die Olympischen Spiele verändern auf meisterhafte Weise den Blick der Franzosen auf ihr Land, aber auch auf sich selbst. Die zwei Wochen in Paris werden zwar weder ihren Alltag noch die Art und Weise, wie sie regiert werden, revolutionieren, aber sie haben die enorme Qualität, das Gefühl der Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft wiederherzustellen, die zu großen Dingen fähig ist«, stellt die nordostfranzösische Regionalzeitung fest. Von den olympischen Qualitäten ihrer Athleten sollten sich Frankreichs Politiker inmitten der Regierungskrise, die während der Olympischen Spiele zwar »ausgesetzt«, aber nicht gelöst wurde, eine Scheibe abschneiden, schreibt das Blatt. Gemeinsames Handeln, Respekt für den Gegner und Optimismus seien »Eigenschaften, die die Bürger heute auf den Bänken der Nationalversammlung verzweifelt suchen», meint »DANN«.

»Möge der Zauber der Olympischen Spiele nicht zu schnell verfliegen! Wir werden nationale Eintracht, Kühnheit und eine große Lust am Überwinden brauchen, um eine neue Regierung zu finden, unsere Staatsfinanzen zu sanieren, die Sicherheit aller zu erhöhen, Arbeitsplätze und Wohlstand zu schaffen.« Für diesen politischen Wettkampf gebe es keine Medaillen, aber Niederlagen seien inakzeptabel.