Ausland11. Februar 2023

Tatort Ostsee

US-amerikanischer Journalist berichtet über Hintergründe und Zusammenhänge des Anschlags auf die Nord-Stream-Pipeline

von German Foreign Policy/ ZLV

Der US-amerikanische Journalist Seymour Hersh schreibt den Anschlag auf die Nord-Stream-Pipelines den USA in Kooperation mit Norwegen zu. Wie Hersh in einer aktuellen Recherche berichtet, begann die USA-Administration bereits Ende 2021, die Zerstörung der politisch unerwünschten Pipelines zu planen. Realisiert wurde der Anschlag mit Hilfe der norwegischen Marine, die bei der Auswahl des Tatorts wie auch beim Anbringen der Sprengsätze an den Pipelines behilflich war.

Letzteres, so schreibt Hersh, wurde im Juni 2022 während des alljährlich durchgeführten BALTOPS-Marinemanövers vollzogen. Seymour Hersh ist für seine investigativen Recherchen bekannt, seit er im Jahr 1969 gegen starke Widerstände das Massaker von My Lai öffentlich machte, bei dem US-Militärs mehr als 500 vietnamesische Zivilisten ermordeten.

Die Planung des Anschlags

Wie Seymour Hersh unter Berufung auf eine Quelle »mit direkter Kenntnis von der Operationsplanung« schreibt, begannen die Planungen für die Sprengung der beiden Nord-Stream-Pipelines im Dezember 2021, gut zwei Monate vor dem russischen Eingreifen in den Krieg in der Ukraine. Damals kam in Washington eine eigens gebildete Arbeitsgruppe zusammen, in der unter Leitung des Nationalen Sicherheitsberaters Jake Sullivan Mitarbeiter unter anderem des Generalstabs, der CIA und des Außenministeriums Möglichkeiten erkundeten, die Nord Stream-Pipelines zu zerstören.

Es sei rasch klar gewesen, daß das auf direkten Wunsch des USA-Präsidenten erfolgt sei, berichtet Hershs Quelle (Seymour Hersh: How America Took Out The Nord Stream Pipeline. seymourhersh.substack.com 08.02.2023). Mit der operativen Planung habe sich dann eine Arbeitsgruppe der CIA befaßt, die Anfang 2022 vermeldet habe, man habe eine Möglichkeit zur klandestinen Umsetzung des Vorhabens gefunden. Die Beteiligten seien allerdings konsterniert gewesen, als Präsident Joe Biden bereits kurz darauf, am 7. Februar 2022, auf einer gemeinsamen Pressekonferenz mit Bundeskanzler Olaf Scholz geäußert habe, im Fall einer russischen Invasion in die Ukraine »wird es keine Nord Stream 2 mehr geben«: »Wir werden ihr ein Ende setzen.« Laut Hershs Quelle beschwerten sich mehrere CIA-Mitarbeiter damals, die geplante Aktion sei nun nicht mehr geheim.

Organisiertes Stillschweigen

An der praktischen Vorbereitung der Sprengung und ihrer konkreten Durchführung sind laut den Recherchen von Seymour Hersh Mitarbeiter des norwegischen Geheimdienstes und Angehörige der norwegischen Marine beteiligt gewesen. Die Voraussetzung dafür hätten die verstärkte Militärpräsenz der USA in Norwegen und die überaus enge Militärkooperation mit den Streitkräften des Landes geschaffen, dem auch NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg entstammt. Laut Hersh wählten norwegische Marinesoldaten den geeignetsten Anschlagsort aus; sie waren zudem mit ihrer Kenntnis der Ostsee behilflich, die nötige Tarnung des Sprengstoffs vorzubereiten, der an den Pipelines angebracht werden sollte, drangen zugleich aber darauf, zumindest ausgewählte Regierungsmitarbeiter in Dänemark und Schweden in den Grundzügen in die Aktion einzuweihen, um diese nicht zu gefährden – auch nicht im Nachhinein durch die Aufklärung des Anschlags.

Tatsächlich erstaunt nicht nur, daß bis heute offiziell so gut wie nichts über die Aufklärungsarbeiten bekannt geworden ist – im Gegensatz zu den wilden, häufig haltlosen Spekulationen, mit denen seit Jahren Rußland alle möglichen Anschläge in die Schuhe geschoben wurden. Auch die exzessive Geheimhaltung Schwedens verblüfft: Das Land informiert nicht einmal verbündete NATO-Staaten über die Resultate seiner Ermittlungen.

Die Durchführung des Anschlags

Laut Seymour Hershs Quelle haben Taucher den Sprengsatz während des Manövers BALTOPS 2022 an den Pipelinesträngen angebracht. An BALTOPS 2022, einem Großmanöver der USA und der NATO, das in der Zeit vom 5. bis zum 17. Juni 2022 stattfand, war auch die deutsche Bundeswehr beteiligt. Das Manöver wurde laut Informationen der deutschen Bundeswehr von den U.S. Naval Forces Europe und der 6. US-Flotte geführt, unter der Kontrolle von STRIKFORNATO. Der stellvertretende Kommandeur von STRIKFORNATO, der britische Konteradmiral James Morley von der Royal Navy, leitete die »Exercise Control«, die Gruppe von Experten, die die Übenden kontrollieren und anschließend bewerten. Streitkräfte von 14 NATO-Staaten sowie von zwei NATO-Partnerstaaten, über 45 Schiffe, mehr als 75 Flugzeuge sowie rund 7.000 Soldatinnen und Soldaten waren an der Übung beteiligt. Laut Bundeswehr war »der Umfang des Manövers so groß wie selten in der bisherigen Geschichte der Übungsreihe seit 1972«.

In gängigen Beschreibungen zum Manöververlauf heißt es, die beteiligten Streitkräfte hätten neuartige High-Tech-Methoden erprobt, darunter Technologien zur Erhöhung der Reichweite von Unterwasserdrohnen. Zuweilen ist über eine Nutzung solcher Drohnen zur Vorbereitung des Anschlags spekuliert worden; Seymour Hersh tut das nicht. Er könnte aber darauf verweisen, daß laut offizieller Manöverbeschreibung bei der Übung Marinetaucher Sprengsatzattrappen legten, die es anschließend zu entschärfen galt.

Dies ließe ohne weiteres Raum für eine unauffällige Platzierung der Sprengsätze an den Nord-Stream-Leitungen. Seymour Hersh berichtet, die Taucher und der Sprengstoff seien mit einem norwegischen Schiff zum Tatort gebracht worden. Recherchen unabhängiger Journalisten ergaben in dieser Woche, daß ein Minenjagdboot aus Norwegen tatsächlich im Juni sehr nahe am Tatort entlangfuhr; es stoppte zwar nicht unmittelbar dort, allerdings an mehreren Stellen nur einige Seemeilen entfernt.

Laut Seymour Hersh ist der Sprengsatz schließlich durch einen Zünder zur Explosion gebracht worden, der auf eine Sonarboje reagierte. Diese sei von einem norwegischen Seefernaufklärer unweit des Tatortes abgeworfen worden.

Berichterstattung

Seymour Hershs Recherchen werden weltweit mit großem Interesse rezipiert – auch in Ländern, die eng mit den USA verbündet sind. Die konservative »Londoner Times« widmete Hershs Enthüllungen einen ausführlichen, fairen Beitrag. Die Zeitung hatte bereits in der vergangenen Woche in einem Artikel Hinweise auf eine westliche Täterschaft publiziert; sie hatte unter anderem den ehemaligen Chef des deutschen Auslandsgeheimdienstes (BND) August Hanning mit dem Hinweis zitiert, es habe sowohl für die USA wie auch für die Ukraine, Polen oder Britannien »Gründe« gegeben, die Nord-Stream-Pipelines zu zerstören.

Ende 2022 hatten mit der »Washington Post« und der »New York Times« zwei führende US-amerikanische Zeitungen den Anschlägen umfassende Artikel gewidmet und dabei explizit darauf hingewiesen, nirgends lägen irgendwelche Hinweise auf eine russische Täterschaft vor. Stattdessen, so hieß es jeweils, seien zahlreiche Regierungsmitarbeiter auf beiden Seiten des Atlantik der Ansicht, der Anschlag müsse von einem westlichen Staat verübt worden sein.

Propaganda

Deutsche und andere westliche Leitmedien dagegen sind schwerpunktmäßig damit befaßt, Hershs Recherchen in Frage zu stellen und die Behauptung der USA-Regierung zu stützen, nichts mit dem Anschlag zu tun zu haben. So heißt es etwa unter Berufung auf einen Mitarbeiter der Universität der Bundeswehr, »das Legen und Räumen von Minen« gehöre bei BALTOPS »schon seit Jahren zum Programm«; zudem sei es »zumindest schwierig«, während eines multinationalen Manövers »eine verdeckte Operation durchzuführen«. Dies seien »Ungereimtheiten«, die – so heißt es – gegen Hershs Recherchen sprächen.

Das trifft nicht zu: Die Tatsache, daß eine Operation „schwierig“ ist, schließt die Durchführung nicht aus. Andernorts heißt es, die mangelnde Berichterstattung über die bisherige Aufklärung des Anschlags ergebe sich daraus, daß man »nur öffentlich« mache, was man tatsächlich »belegen kann«. Deutsche Leitmedien haben schon Jahre vor Kriegsbeginn jeden greifbaren Vorwurf gegen Rußland wiederholt, auch wenn es nicht den geringsten Beleg dafür gab.

Die Medien im Schützengraben

Die platte Parteinahme für die westlichen Mächte, die die Leitmedien auch im Ukraine-Krieg pflegen, sticht nicht nur ins Auge; sie ist mittlerweile auch in einer Studie im Detail belegt. Eine im Dezember publizierte Studie dreier Kommunikationswissenschaftler konstatiert etwa, in den Leitmedien werde »deutlich überwiegend« für die Lieferung auch schwerer Waffen an die Ukraine Position bezogen; militärische Unterstützung werde zudem weithin »als sinnvoller als diplomatische Maßnahmen« dargestellt. Wer die Lieferung schwerer Waffen ablehne oder auch nur Zurückhaltung zeige, werde als »Zauderer« attackiert.

Derlei Agitation läßt kritische Recherche – auch zum Bombenanschlag auf die Nord-Stream-Pipelines – schon lange nicht mehr zu.

In den großen Medien wurden in Berichten über die Recherche unverzüglich Zweifel an der Belegbarkeit aufgeworfen. Hersh sei »zuletzt auch immer wieder mit fragwürdigen Recherchen aufgefallen«, schrieb die Deutsche Presseagentur am Donnerstag. Die Quellenlage zu Nord Stream sei »ungesichert«, die USA und Norwegen hätten den Bericht »scharf zurückgewiesen«. »Das ist völlig falsch und eine vollkommene Erfindung«, wird die Sprecherin des Nationalen Sicherheitsrates der USA, Adrienne Watson, von dpa zitiert.

Gleichzeitig werden in den westlichen Medien jegliche »Berichte« zum Beispiel über die Rolle des russischen Präsidenten beim Abschuß eines Passagierflugzeuges über der Ukraine, über die angebliche Anwendung von Chemiewaffen durch die syrische Armee, über angebliche Kriegsverbrechen russischer Truppen in der Ukraine oder über chinesische »Spionageballons« völlig ungeprüft und ohne den Anschein eines Beweises massenweise veröffentlicht. Während die Europäische Union erst in dieser Woche neue Maßnahmen für ihren Kampf gegen »russische Desinformation« beschlossen hat, werden immer mehr Desinformationen verbreitet, die sich gegen Rußland oder gegen China richten.