Ausland03. November 2022

Zum Erstschlag bereit

USA wollen ihre Atombomben in Europa durch modernere ersetzen. Neue Nuklearstrategie schließt einen Erstschlag explizit nicht aus

von German Foreign Policy

Die USA beschleunigen die Modernisierung ihrer Nuklearwaffen in Europa und werden schon in wenigen Wochen mit der Stationierung der neuen, präziseren und flexibleren Atombomben des Typs B61-12 beginnen. Ersetzt werden etwa 100 Bomben, die in fünf europäischen NATO-Staaten eingelagert sind. Zugleich bestätigt die Biden-Administration in ihrer neuen, am Freitag vorgelegten Nuklearstrategie, daß sie einen atomaren Erstschlag explizit nicht ausschließt. Vielmehr hält sie sich einen nuklearen Angriff für den Fall offen, daß »vitale Interessen« der USA oder verbündeter Staaten bedroht sind – »unter extremen Bedingungen«, wie es heißt; das kann auch ein konventioneller Angriff sein.

Beschleunigte Modernisierung

Die Vereinigten Staaten beschleunigen die Modernisierung ihrer in Europa stationierten Nuklearwaffen und werden noch in diesem Jahr beginnen, die Atombomben des Typs B61, die unter anderem in Büchel in der Eifel, wenige Kilometer von der Grenze Luxemburgs entfernt, eingelagert sind, durch die neue Version B61-12 zu ersetzen. Dies berichtet das Nachrichtenportal »Politico«, das sich im Besitz der Axel Springer SE befindet.

Regierungsmitarbeiter der USA informierten im Oktober in Brüssel Vertreter der anderen NATO-Staaten, die Maßnahme solle bereits im Dezember umgesetzt werden. Sie betreffe alle europäischen Standorte, an denen Atomwaffen der USA eingelagert seien. Bei den Standorten, die derzeit rund 100 US-Bomben beherbergen, handelt es sich um Büchel, Kleine Brogel (Belgien), Volkel (Niederlande), Ghedi, Aviano (Italien) sowie İncirlik (Türkei).

Die B61-12 könnten mit den bisher dafür vorgesehenen Kampfjets an ihr Einsatzziel geflogen werden, heißt es nun – darunter die Tornados, die die Bundeswehr gegenwärtig verwendet, aber auch die US-amerikanischen F-35, die die deutsche Bundesregierung kaufen will und die spätestens bis zum Januar kommenden Jahres für die neuen Atombomben zertifiziert werden sollen.

Die »vitalen Interessen« des Westens

Der beschleunigte Austausch der B61 durch die B61-12 ist unmittelbar vor der Präsentation der neuen Nuklearstrategie der USA am vergangenen Donnerstag bekanntgeworden. Die neue Strategie (Nuclear Posture Review) hält, wie Experten feststellen, im Wesentlichen an den Elementen der Trump’schen Nuklearstrategie fest. So schließt sie explizit jeden Verzicht auf einen nuklearen Erstschlag aus: Ein solcher Verzicht, wie ihn etwa China erklärt hat, stelle für die Vereinigten Staaten »ein inakzeptables Risiko« dar, heißt es in dem Papier.

Ausdrücklich heißt es, die USA zögen »den Einsatz nuklearer Waffen unter extremen Bedingungen« in Betracht, falls »ihre vitalen Interessen« oder diejenigen ihrer Verbündeten und Partner bedroht seien; dies kann demnach auch der Fall sein, wenn der Feind keinen nuklearen Angriff eingeleitet hat. »Die USA-Nuklearstreitkräfte« blieben auch für die NATO, ihre »Abschreckung und ihre Verteidigung« »wesentlich«, erklärt die Biden-Administration. Dabei gelte es nicht zuletzt, »die nuklearen und die nicht-nuklearen Fähigkeiten und Konzepte der NATO« in Zukunft enger zu verzahnen.

Atomkriegs-Manöver

Praktisch trainiert hat die NATO den Atomkrieg in den vergangenen beiden Wochen – mit ihrem jährlich abgehaltenen Manöver »Steadfast Noon«, das am Sonntag offiziell zu Ende ging. Beteiligt waren rund 60 Flugzeuge aus 14 NATO-Staaten, darunter Deutschland; neben den Kampfjets, die im Rahmen der sogenannten nuklearen Teilhabe Atombomben abwerfen sollen, waren auch Überwachungs- und Tankflugzeuge sowie viele Soldaten am Boden involviert. Protest hat ausgelöst, daß die NATO das Atomkriegsmanöver trotz des Ukraine-Kriegs durchgeführt hat – schließlich werden exponierte Militärübungen oft bereits aus Gründen weitaus geringerer Bedeutung abgesagt; dies ist etwa, wie der einstige NATO-Oberbefehlshaber James Stavridis in der »Washington Post« vom 20. Oktober 2022 berichtet, der Fall, wenn ein USA-Präsident zu einem Gipfeltreffen reist, an dem auch ein russischer Präsident teilnimmt: Derartige Treffen sollten nicht durch einen nie vollständig auszuschließenden Manöverzwischenfall gestört werden, erläutert Stavridis. Diesmal habe das westliche Militärbündnis freilich einer Demonstration der Stärke Vorrang vor Sicherheitsüberlegungen gegeben.

Risikowillig

Stavridis räumt die Risiken, die mit der Durchführung von »Steadfast Noon« in der aktuellen Situation verbunden waren, offen ein. Bei der NATO werde man sorgsam beobachtet haben, wie Rußland reagiere, erläutert der Ex-Oberbefehlshaber des Militärbündnisses – so etwa, ob Moskau die NATO-Machtdemonstration zum Anlaß nehme, seinerseits Manöver auf einem höheren Eskalationsniveau durchzuführen oder gar Atomwaffen in der russischen Exklave Kaliningrad zu stationieren.

In der Tat hat Rußland seinerseits in der vergangenen Woche seine nuklearen Fähigkeiten bei dem ebenfalls regelmäßig abgehaltenen Atomkriegsmanöver »Grom« unter Beweis gestellt. Berichten zufolge probten die russischen Streitkräfte dabei die Reaktion auf einen Atomangriff, der gegen Rußland gerichtet war. Dabei feuerten sie land- und seegestützte atomwaffenfähige Interkontinentalraketen von Plessezk im russischen Norden sowie von einem Atom-U-Boot in der Barentssee ab; außerdem brachten strategische Bomber atomar bestückbare Lenkraketen (Cruise Missiles) auf den Weg. Faktisch ist damit in den vergangenen Tagen das Szenario eines alles umfassenden Atomkriegs in Europa vollständig durchexerziert worden.

Eskalationsgefahr wächst

Dabei erhöht die Stationierung der modernisierten US-amerikanischen Atombomben vom Typ B61-12 in Europa laut Einschätzung der russischen Regierung die Atomkriegsgefahr erneut. So wies der stellvertretende russische Außenminister Alexander Gruschko darauf hin, daß die B61-12 präziser ist und mit stark abgestufter, bei Bedarf auch massiv reduzierter Sprengwirkung eingesetzt werden kann. Damit werde sie zur »Schlachtfeldwaffe« und senke die Schwelle zur nuklearen Konfrontation. Genau davor warnen auch Kritiker im Westen seit Jahren.

Gruschko betonte zudem, Moskau werde in Rechnung stellen müssen, daß in Zukunft der US-amerikanische Kampfjet F-35 die in Europa gelagerten Atombomben an den Einsatzort bringen soll. Der F-35 verfügt als Kampfjet der zur Zeit modernsten, fünften Generation über diverse Eigenschaften, die zum Beispiel der alternde Tornado-Jet nicht aufweist, mit dem zur Zeit die deutsche Bundeswehr einen etwaigen Atomangriff plant. Die Tatsache, daß die B61-12 viel präziser und damit weitaus gezielter eingesetzt werden könne, besitze auch deshalb »strategische Bedeutung«, erläuterte am Sonntag der russische Botschafter in Washington, Anatoli Antonow, weil die Lager, in denen Rußlands taktische Nuklearwaffen gebunkert seien, sich in relativer Reichweite der Atomwaffen-Standorte der USA in Europa befänden. Damit steigt das Eskalationsrisiko.

Die deutsche Bombe

Davon unabhängig legt eine führende deutsche Tageszeitung zum wiederholten Mal die nukleare Aufrüstung der Bundesrepublik nahe. Wie es in einem Beitrag heißt, den die »Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung« am 30.10.2022 auf ihrer Titelseite unter der Überschrift »Brauchen wir die Bombe?« publizierte, könne man zwar »für völlig verrückt ... erklärt« werden, »wenn man vorschlägt, daß Deutschland sich ... einen eigenen Atomschirm anschaffen« solle. Doch sei es »die schlechteste Wahl«, nicht in Rechnung zu stellen, daß unter einer zweiten USA-Präsidentschaft von Donald Trump oder unter einer französischen Präsidentschaft von Marine Le Pen ein transatlantischer oder europäischer »Atomschirm« für die Bundesrepublik Deutschland »nicht mehr gewährleistet« sei. Die »strategische Selbstvergewisserung«, von der in Berlin gesprochen werde, dürfe »nicht Wortgeklingel bleiben«.