Die Frau im Gleis
Vor 75 Jahren kämpften Frankreichs Kommunisten gegen den Indochinakrieg
Es waren noch keine fünf Jahre vergangen seit dem großen Krieg, in dem der französische Widerstand gegen die Nazi-Besatzung so viele Heldinnen und Helden aus dem einfachen Volk hervorgebracht hatte. Die französische Rechte, moralisch diskreditiert wegen ihrer Kollaboration mit den Nazis, hatte sofort nach dem Krieg Anstrengungen unternommen, die alten Machtverhältnisse wieder herzustellen. Schon 1946 waren die kommunistischen Minister aus der Regierung gedrängt worden, die Repräsentanten der »IV. Republik« beschränkten die Restauration nicht auf Frankreich, sondern wollten auch die Kolonien wieder unter ihre Souveränität zwingen.
In Vietnam hatte Ho Chi Minh am 2. September 1945 die Unabhängigkeit des Landes erklärt. Seit 1946 kämpften französische Truppen im sogenannten Indochina-Krieg gegen die Befreiungsbewegung.
Dagegen entwickelte sich in Frankreich eine starke Friedens- und Solidaritätsbewegung, deren Kern die Französische Kommunistische Partei (PCF) war. Es wurden große Aktionen durchgeführt wie der Streik der Hafenarbeiter, der von November 1949 bis Mai 1950 die Verschiffung von Militärgütern aus französischen Häfen verhinderte.
Am 22. Februar 1950 war der Führung des PCF in der Region Tours zugetragen worden, daß für den nächsten Tag ein mit Panzerfahrzeugen beladener Zug im Bahnhof des Städtchens Saint-Pierre-des-Corps erwartet wurde. Am Vormittag des 23. Februar, einem Donnerstag, empfing eine nach Hunderten zählende Menschenmenge auf dem Bahnsteig den Militärtransport mit Transparenten und lauten Sprechchören.
Der Zug mußte zum Passieren des Bahnhofs seine Geschwindigkeit fast bis zum Schritttempo herabsetzen, als sich plötzlich eine junge Frau aus der Menge löste und sich wenige Meter vor der Lokomotive ins Gleisbett warf. Der überraschte Lokomotivführer brachte den Zug zum Stehen, nur Zentimeter trennten die schmale Gestalt im Gleis von den stählernen Rädern.
Die junge Frau war die zwanzigjährige Kommunistin Raymonde Dien. Sie wurde noch am Nachmittag festgenommen und ins Gefängnis nach Tours gebracht. Wegen der zunehmenden Proteste gegen ihre Haft wurde sie nach 36 Tagen nach Bordeaux in das Fort du Hâ verlegt. Die Anklage vor einem Militärgericht lautete auf »Beihilfe zur Beschädigung von Material für die nationale Verteidigung«.
Im ganzen Land und darüber hinaus entwickelte sich eine mächtige Solidaritätskampagne mit der mutigen Friedenskämpferin. Es wurden Demonstrationen organisiert, Tausende von Aktivisten schrieben an die Staatsanwälte von Tours und Orléans, um Raymondes Freilassung zu erwirken, Politiker und namhafte Intellektuelle schlossen sich an. Die Parteizeitung »Humanité« informierte regelmäßig über den Stand des Verfahrens. Dennoch lautete das Urteil am 1. Juni 1950 schließlich auf ein Jahr Gefängnis ohne Bewährung und 15 Jahre Entzug der bürgerlichen Rechte »wegen Gefährdung der äußeren und inneren Sicherheit des Staates«.
Das Urteil konnte die Welle der Solidarität mit Raymonde Dien nicht brechen. Unter diesem Druck wurde sie am 24. Dezember 1950 vorzeitig aus der Haft entlassen. So konnte sie als umjubelter Ehrengast an den III. Weltfestspielen der Jugend und Studenten im August 1951 in Berlin, Hauptstadt der DDR teilnehmen.
Den Kampf um Frieden und Sozialismus hat Raymonde Dien niemals aufgegeben. Von 1953 bis 1958 leitete sie die Union des jeunes filles de France, die Mädchenorganisation des PCF, danach arbeitete sie in der Gewerkschaft CGT.
Vielfältig sind die Ehrungen, die sie erfahren hat: In Saint-Pierre-de-Corps gibt es eine »Straße des 23. Februar«. Vietnam verlieh ihr 2004 die Freundschaftsmedaille, in Ho-Chi-Minh-Stadt, der 9-Millionen-Einwohner-Metropole im Süden Vietnams, wurde eine Straße nach ihr benannt. 1953 wurde im Siegespark der sowjetischen Heldenstadt Leningrad eine Statue enthüllt, die sie zwischen Schienen liegend darstellt und der berühmte sowjetische Komponist Sergei Prokofjew hat ihr in einem Oratorium ein Denkmal gesetzt.
Am 22. August 2022 ist Raymonde Dien 93-jährig gestorben. »Raymonde ist es gelungen, ihren Prozeß zu einer wichtigen politischen Manifestation zu machen, indem sie die Verbrechen anprangerte, die die Vierte Republik im Namen Frankreichs gegen das vietnamesische Volk begangen hat«, hieß es im Nachruf ihrer Partei.