Kultur

Ein Mann, der Saramago heißt

 »Cain« , die letzte Novelle von José Saramago, bekam ich an einem regnerischen Tag, und der Umschlag enthielt ein etwas mitgenommenes Buch, aber die Kugelschreibertinte ist glücklicherweise resistent und die Widmung hatte keinen Schaden genommen. Es hatte seit achtzehn Jahren in Bad Homburg geregnet, einem Ort nahe Frankfurt, wo wie jedes Jahr die sagenumwobene Frankfurter Buchmesse eigentlich begann, während eines Abendessens, zu dem unser Literaturagent Ray-Güde Mertin einlädt. Und an diesem Regentag, als wir prächtige deutsche Weine verkosteten, als wir Schriftsteller und Herausgeber aus aller Welt uns trafen, berührten und erzählten, was uns in dem Moment wichtig war, bekamen wir nicht mit, daß die Haustürklingel nicht funktionierte.

Plötzlich kam einer der Angestellten zur Hausherrin und flüsterte ihr zu : »An der Tür ist jemand, der Saramago heißt.« Da trat dieser dünne Mann ein, begleitet von einem Engel namens Pilar ; dieser Mann, der die Versammelten scheinbar verloren ansah, bis er den uruguayischen Schriftsteller Mario Delgado Aparáin erkannte und sich beide umarmten. Von da an bildete sich das Eck der Lateinamerikaner, die wir auf die tausend Fragen zu antworten versuchten, die Saramago uns stellte, der über unsere Länder mehr als viele von uns wußte.

José Saramago verstand die Solidarität als etwas Lebenswichtiges, niemand engagierte sich für so viele wichtige Dinge in so kurzer Zeit. Die wir ihn irgendwann einmal nach Chiapas eingeladen hatten, in die Lager von Tindouf (Sitz der Westsahara-Regierung in Algerien, A.d.Ü.), in die Araukania, irgendwohin auf den amerikanischen Kontinent, wo nicht eine hoffnunggebende Rede ohne Inhalt gefragt war, sondern ein starkes Eintreten für Menschenrechte, Gerechtigkeit und die Würde der Armen, wußten, daß es wahrscheinlich war, daß er akzeptierte und dabei seine eigene Gesundheit riskierte und seine kostbare Schriftstellerzeit opferte.

José Saramago kam an alle Orte, von denen er glaubte, sie besucht haben zu müssen. Er wußte besser als jeder andere zu definieren, was es heißt in diesem konfusen 21. Jahrhundert Kommunist zu sein : es ist eine Frage der Haltung, sagte er, eine Frage der Ethik angesichts der Ereignisse und der Geschichte.

Und jetzt regnet es auch in Asturien, wo das Radio das Ableben dieses Mannes meldet, der Saramago heißt, dessen Beispiel eine Ikone des gesellschaftlichen Anstands ist und der der Autor von Büchern ist, die im Gedächtnis der Jahrhunderte bleiben.

Der Weg derer, die um die Ethik besorgt sind, wird ohne José Saramago hart und beschwerlich sein. Es wird hart sein zu wissen, daß er nicht da ist, wo wir seine aufmunternde Stimme brauchen, in den tausend offenen Kämpfen gegen ein grausames System. Aber ich weiß, daß uns eine Stimme in unserem Unterbewußtsein, in den Momenten von Zweifeln und Gefahren, daran erinnern wird, daß das Beispiel dieses Mannes, der Saramago heißt, bei uns ist.

Gijón, am 18. Juni 2010
Luis Sepúlveda, 1949 in Chile geboren, mußte wegen seines politischen Engagements seine Heimat verlassen und lebte u.a. über zehn Jahre in Deutschland im Exil. Er arbeitete als Journalist und für die UNESCO. Heute lebt Sepúlveda in Spanien. Seine Werke wurden in zahlreiche Sprachen übersetzt und erhielten wichtige Auszeichnungen.

Luis Sepúlveda