Ausland28. Januar 2023

Hunger und Armut in Syrien

Der Mangel ist gemacht und fördert Kriegswirtschaft

Karin Leukefeld, Damaskus

Januar 2023. Am libanesisch-syrischen Grenzübergang Masnaa herrscht Gedränge. Eine lange Schlange syrischer Taxis wartet auf die Abfertigung. In einer zweiten Schlange stehen libanesische Fahrzeuge, die Reisende nach Syrien bringen.

Die syrischen Taxis liegen trotz weniger Fahrgäste tief auf der Straße. Ihre Tanks sind bis oben gefüllt, im Kofferraum liegt eine Gasflasche. Einen vollen Tank und eine Gasflasche vom Libanon nach Syrien zu transportieren ist nur für Taxis erlaubt. Mangels Fahrgästen hat sich der Transport von Benzin im eigenen Tank und einer Gasflasche für die syrischen Taxifahrer zu einer guten Einkommensquelle entwickelt. Zuhause angekommen wird das Benzin aus dem Tank in Zehnliterflaschen oder Kanister umgefüllt und anschließend auf dem Schwarzmarkt, d.h. am Straßenrand oder in der Nachbarschaft für rund 85.000 Syrische Pfund (SYP), umgerechnet etwa 12,80 US-Dollar verkauft.

Der offizielle Umtauschkurs für 1 US-Dollar beträgt derzeit 4.500 SYP. Der gebräuchliche und geduldete Schwarzmarktkurs beträgt für 1 US-Dollar 6500 SYP. Vor zwölf Jahren, zu Beginn des Krieges erhielt man für 1 US-Dollar 50 SYP.

Künstlich erzeugter Mangel

Wie das Benzin wird auch der Gaszylinder verkauft. Vor allem im Winter wird mit Gas nicht nur gekocht, sondern auch geheizt, weil Heizöl rar und sehr teuer ist. Syrische Familien erhalten jedoch nur noch alle 100 Tage einen Gaszylinder, der von der Regierung subventioniert wird. Das subventionierte Gas kostet knapp 12.000 Syrische Pfund (etwa 2 US-Dollar). Wer kein Recht auf subventioniertes Gas hat, bezahlt pro Zylinder 35.000 Syrische Pfund (6 US-Dollar). Wer mehr Gas braucht, weil er ein Geschäft, eine große Familie, kranke Angehörige oder einen Kindergarten zu versorgen hat, muß Gas auf dem Schwarzmarkt kaufen. Dort kostet ein Zylinder zwischen umgerechnet 27 und 36 US-Dollar. Das entspricht dem monatlichen Lohn staatlicher Angestellter. In der Privatwirtschaft können bis zu 500.000 Syrische Pfund monatlich verdient werden. Doch auch ein Gehalt von umgerechnet etwa 75 US-Dollar reicht einer Familie in Syrien heute nicht, um die monatlichen Kosten zu decken.

Auch Libanesen versuchen sich mit Benzinschmuggel nach Syrien ein Einkommen zu verschaffen. Auf dem Autobahnteil zwischen dem libanesischen Grenzübergang Masnaa und dem syrischen Grenzübergang Jdeideh Jabous stehen viele Fahrzeuge und füllen Benzin aus ihren Tanks in Zehnliterflaschen ab, die sie an syrische Abnehmer verkaufen. Manche Käufer kommen sogar zu Fuß, um sich zwei Flaschen in einen Rucksack zu laden und mit je einer Flasche in den Händen rechts und links auf den Rückweg nach Syrien zu machen.

Niemand greift ein. Der Schmuggel – Folge von künstlich erzeugtem Mangel in Syrien durch ausländische Besatzung, westliche Wirtschaftssanktionen und der Weigerung, die Souveränität und territoriale Integrität Syriens zu respektieren – ist Teil der Kriegswirtschaft.

Syrien-Debatte im UNO-Sicherheitsrat

Die politische und humanitäre Entwicklung in Syrien war turnusgemäß 25. Januar Thema im UNO-Sicherheitsrat. Informiert wurde das Gremium von dem UNO-Sonderbeauftragten für Syrien, dem norwegischen Diplomaten Geir O. Pedersen, und von Ghada Eltahir Mudawi, der amtierenden Direktorin von OCHA für Operationen und Beratung. OCHA ist das Büro der UNO für die Koordinierung humanitärer Angelegenheiten, unter deren Aufsicht alle UNO-Hilfsoperationen in Syrien stattfinden.

Viel ändert sich nicht in Sachen Syrien im Sicherheitsrat. Die von den UNO-Verantwortlichen vorgelegten Informationen bleiben bürokratisch und unübersichtlich, die Ständigen Mitglieder im Sicherheitsrat tauschen ihre bekannten Positionen aus. Neu war eine Erklärung der Schweiz und Brasiliens, die dem Gremium seit Anfang des Jahres angehören.

Der syrische Botschafter bei der UNO, Bassam Sabbagh, warf besonders den USA vor, mit ihrem Verhalten im Sicherheitsrat und im Mittleren Osten die Lage in Syrien zu destabilisieren. »Die illegitime ausländische Truppenpräsenz« bedrohe die Sicherheit und territoriale Integrität des Landes, sagte er. Die Ressourcen Syriens würden geplündert, »vor allem Öl, Gas und Weizen«.

Sanktionen gegen Rußland blockieren Syriengespräche

Hauptpunkt des Berichts von Pedersen war der (Still-)Stand der Beratungen im Syrischen Verfassungskomitee, das sich seit Juni 2022 nicht mehr getroffen hat. Das liegt nach Angaben von Pedersen gegenüber Journalisten auch an den von Rußland geäußerten Bedenken gegenüber der Schweiz. Das laut Verfassung neutrale Land hatte sich im vergangenen Jahr dem Druck von EU und USA gebeugt und sich den EU-Sanktionen gegen Rußland wegen des Krieges in der Ukraine angeschlossen. Seitdem wurde jedes neue EU-Sanktionspaket gegen Rußland von der Schweizer Regierung übernommen. Folge davon ist u.a., daß russische Regierungsmitglieder wie Außenminister Sergej Lawrow nicht nach Genf reisen können.

Rußland hatte daraufhin im UNO-Sicherheitsrat einen anderen, neutralen Ort für die Fortsetzung der Gespräche des syrischen Verfassungskomitees vorgeschlagen. Die westlichen Ständigen Mitglieder im Sicherheitsrat – USA, Britannien und Frankreich – bleiben eine Antwort schuldig.

Alle Ständigen Mitglieder im Sicherheitsrat – China, Frankreich, Britannien, Rußland, USA – sowie Deutschland gelten als Garantiemächte des politischen Prozesses, der unter dem Dach der UNO in Genf zwischen der syrischen Regierung, einer ausgewählten syrischen Opposition und syrischen zivilgesellschaftlichen Gruppen stattfinden soll. Grundlage ist die UNO-Sicherheitsratsresolution 2254 aus dem Jahr 2015. Der Prozeß stagniert.

Pedersen versucht, die verschiedenen »stakeholder«, d.h. Interessenvertreter, an einen Tisch zu bekommen. Im Dezember traf er den syrischen Außenminister Feisal Mekdad in Damaskus und den türkischen Außenminister Mevlüt Cavusoglu. Am Rande des Weltwirtschaftsforums in Davos sprach Pedersen mit dem saudischen Außenminister Faisal bin Farhan Al Saud. Und mit den Syrien-Beauftragten aus Britannien, Frankreich, den USA und Deutschland sprach Pedersen in Genf am 24. Januar darüber, wie »Vertrauen und Zuversicht« geschaffen werden könnten. Fortschritte sind nicht zu berichten.

Die »Quad-Syrien-Beauftragten« aus Frankreich, Britannien, den USA und Deutschland bekräftigten vielmehr, auf ihrem Standpunkt gegenüber Syrien zu beharren. Man unterstütze Pedersen dabei, »eine politische Lösung des Konflikts in Syrien gemäß der UNO-Sicherheitsratsresolution 2254 zu erreichen«, hieß es in einer gemeinsamen Erklärung. Die Resolution sei »die einzige machbare Lösung für den Konflikt«, und man freue sich darauf, »mit Partnern in der Region und mit der Opposition in diesem Rahmen« zu kooperieren. Die syrische Regierung kommt in der Erklärung nicht vor.

Pedersen versucht herausfinden, zu welchen Zugeständnissen die jeweiligen »Interessenvertreter« bereit wären, wenn andere »Interessenvertreter« ihrerseits Zugeständnisse machen würden. Dabei geht es um Entführte, Gefangene, Verschwundene, um humanitäre Hilfe und die so genannten »frühzeitigen Erholungsprojekte«, mit denen die von EU und USA verhängten einseitigen wirtschaftlichen Strafmaßnahmen umgangen werden können, damit Syrien die Chance zum Wiederaufbau hat.

Die Maßnahmen, die die Bevölkerung in Lohn und Brot bringen und die zivile Infrastruktur wiederherstellen sollen, scheinen allerdings mehr Stellen für Nichtregierungsorganisationen als für die Bevölkerung zu schaffen. Nach UNO-Angaben haben im vergangenen Jahr mindestens 125 (!) humanitäre Hilfsorganisationen 374 solcher Projekte in allen 14 syrischen Provinzen umgesetzt. Geberländer sollen demnach 517 Millionen US-Dollar für das Programm überwiesen haben.

Sanktionen, Plünderung und Besatzung

Die syrische Bevölkerung hat »Vertrauen und Zuversicht« in den UNO-Prozeß längst verloren. Grund dafür ist die anhaltende Verschlechterung der Lebensbedingungen für die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung und zwar unabhängig davon, wo im Land sie leben.

Verantwortlich für die Wirtschaftskrise ist neben den Kriegsfolgen die Teilung des Landes durch Besatzungstruppen aus der Türkei und den USA. Mit einseitiger Parteinahme für sehr unterschiedliche Regierungsgegner blockieren sie den innersyrischen Dialog und spalten die Gesellschaft. Die USA unterstützen die kurdisch geführten »Syrischen Demokratischen Kräfte« (SDF) im Nordosten, die Türkei unterstützt die von ihr finanzierten Islamisten in Idlib und im nördlichen Umland von Aleppo. Die Besatzungstruppen hindern die syrische Regierung außerdem im Norden, Nordwesten, Nordosten und Süden (Al Tanf) daran, die nationalen Grenzen zu kontrollieren, Schmuggel zu unterbinden und die eigenen Ressourcen – Öl, Gas, Wasser, Baumwolle, Weizen – zu fördern und zu nutzen.

Ein weiterer Grund für die schwierigen Lebensverhältnisse in Syrien sind die einseitigen wirtschaftlichen Strafmaßnahmen reicher westlicher Staaten und Staatenbündnisse. Sie richten sich nach offizieller Darstellung angeblich gegen »die Verursacher von Repression und Unterdrückung der Bevölkerung«, treffen allerdings gerade diejenigen im Land, die man vorgibt schützen zu wollen. Die Sanktionen sind weder vom Sicherheitsrat noch von der Generalversammlung der UNO gebilligt, sondern entsprechen den politischen Interessen von EU und USA, die Wirtschaftssanktionen als Druckmittel gegen politische Gegner weltweit einsetzen.

Alena Douhan, UNO-Sonderberichterstatterin über die Folgen einseitiger wirtschaftlicher Strafmaßnahmen für die Bevölkerung eines Landes, kritisiert seit Jahren die von der EU (2011) und den USA (2019) gegen Syrien verhängten Sanktionen. Sie blockierten den Wiederaufbau und die Stabilisierung des Landes und sie verletzten massiv die Menschenrechte der syrischen Bevölkerung, sagte sie nach einem 12-tägigen Aufenthalt in Syrien im November 2022. Sie sei über die Lebensverhältnisse schockiert gewesen, erklärte sie in Damaskus vor Journalisten. Die Strafmaßnahmen müßten umgehend aufgehoben werden.

Wirtschaftsblockaden und Sanktionen fördern Schmuggel und Korruption, das ist nicht nur in Syrien zu beobachten. Im Nordosten, in den ressourcenreichen Gebieten unter Kontrolle der »SDF« und der USA-Armee gibt es nach Aussage von Bewohnern aus Hasakeh erhebliche Ungleichheiten bei der Versorgung. Eine Frau aus Hasakeh, die der Autorin persönlich bekannt ist, die ihren Namen aber nicht veröffentlichen möchte, berichtete, daß bei Einstellungen, bei der Versorgung mit Wasser, Strom, Gas und Benzin Personen bevorzugt würden, die den »SDF« nahe stehen. Der Schmuggel über die syrisch-nordirakisch-kurdische Grenze blühe, fast täglich würden Konvois von Tanklastzügen syrisches Öl abtransportieren. Selbst über die Grenze zur Türkei würden gegen hohe Summen Waren, Medikamente und Menschen geschmuggelt.

Die humanitäre Notlage ist gemacht

Nach Angaben von des UNO-Büros für die Koordinierung humanitärer Angelegenheiten (OCHA) benötigen 15,3 Millionen Syrer Hilfe zum Lebensunterhalt. 77 Prozent der Haushalte verfügen nicht über genügend Einkommen, um grundlegende Bedürfnisse zu sichern. 8 Prozent der Haushalte sind laut OCHA überhaupt nicht in der Lage, sich zu versorgen.

Obwohl die Probleme landesweit bestehen, wird im UNO-Sicherheitsrat weiter darüber gestritten, ob Hilfe für Idlib »grenzüberschreitend« aus der Türkei kommen soll oder über Damaskus verteilt wird, was dem humanitären Völkerrecht entspräche. Im Rahmen der innersyrischen so genannten »Frontlinien überschreitenden« Versorgung, die entsprechend der UNO-Sicherheitsratsresolution 2585 aus dem Jahr 2021 verstärkt werden soll, wurde am 8. Januar 2023 erst der zehnte Konvoi bestehend aus 18 Lastwagen durchgeführt.

Währenddessen passierten allein im Jahr 2022 über den syrisch-türkischen Grenzübergang Bab al Hawa monatlich im Durchschnitt 600 Lastwagen mit Lebensmitteln und weiterer humanitärer Hilfe nach Idlib. Das Gebiet im Norden der nordwestsyrischen Provinz steht unter Kontrolle des Al-Qaida-Ablegers »Hayat Tahrir al-Scham«.

Am 9. Januar 2023 wurde die umstrittene Maßnahme der »grenzüberschreitenden Hilfe«, mit der die Souveränität Syriens außer Kraft gesetzt wird, unter dem Beifall der westlichen Staaten Frankreich, Britannien und den USA um 6 Monate bis zum 10. Juli 2023 verlängert.