Ausland21. Juli 2021

Vor 20 Jahren

Terror in Genua

Staatliche Repressionskräfte gehen während G8-Gipfel mit brutaler Gewalt gegen Protestierende vor

von Gerhard Feldbauer

Während des G8-Gipfels im Juli 2001 in Genua versuchte Silvio Berlusconi, nach dem Vorbild Pinochets in Chile eine offen terroristische Diktatur zu errichten. Er scheiterte am Widerstand breiter Massen, konnte aber mit Unterstützung rechter bürgerlicher Grüppchen sein faschistoides Regime behaupten.

Im März 1994 hatte der Medientycoon Silvio Berlusconi, Chef der zehn Wochen vor der Wahl gegründeten faschistischen Forza Italia (FI), im Bündnis mit der Mussolini-Nachfolgerpartei Movimento Sociale Italiano (MSI) und der auf dem Boden der »Blut und Boden«-Ideologie gegründeten Lega Nord die Parlamentswahlen gewonnen. Die von ihm danach gebildete Regierung bezeichnete das linke »Manifesto« am 15. Mai 1994 als »Governo nero«, schwarze Regierung. »Faschisten und Monarchisten, Lega-Leute und christdemokratischer Schrott, Industrielle und Manager von Berlusconis Medienimperium Fininvest. Das sind die Minister der Regierung Berlusconi. Eine kompakte Regierung der extremen Rechten«. Damals waren die Linken noch stark und brachten mit einem Generalstreik und Massendemonstrationen – 300.000 in Mailand, 250.000 in Florenz, 200.000 in Rom und Turin am 21. Dezember die »schwarze Regierung« Fall.

Die Wahlen im April 1996 gewann ein Mitte-Links-Bündnis Olivenbaum (Ulivo) unter dem parteilosen Romano Prodi. Ihre wichtigsten Kräfte waren der aus der Italienischen Kommunistischen Partei (PCI) 1991 hervorgegangene sozialdemokratische Partito Democratico della Sinistra (PDS) die Verdi (Grünen) und die Popolari, ein Nachfolger der Democrazia Cristiana (DC), und der Partito della Rifondazione Comunista (PRC), die Nachfolgepartei der 1991 von den Revisionisten liquidierten PCI. Der PRC trat nicht in die Regierung ein, unterstützte aber Prodi im Parlament, da dieser sonst nicht über die erforderliche Mehrheit verfügt hätte.

Scharfer Rechtsruck

Neben der Fortsetzung der umstrittenen Privatisierung der öffentlichen bzw. staatlichen Unternehmen setzte Prodi den Sozialabbau fort. PDS-Chef Massimo D’Alema signalisierte dazu »für die nächsten fünf Jahre ‚linker’ Politik zu entsagen«. FIAT-Boß Cesare Romiti sah sich dadurch veranlasst, Prodis Kabinett daraufhin als »ausgezeichnete Wahl« zu werten. Nachdem die Regierung den Kurs der Lira stabilisiert und über soziale Kürzungen die Staatsverschuldung abgebaut hatte, kehrte Italien Ende 1996 ins EWS zurück. Mit diesem kapitalfreundlichen Kurs der Mitte-Links-Regierung Prodis wurde einem Wahlsieg Berlusconis 2001 der Weg geebnet, der dann auch eintrat.

Am 13. Mai 2001 erzielte das faschistische Lager, das Berlusconi »Casa della Libertà« (Haus der Freiheit) getauft hatte, einen zweiten Wahlsieg.

Berlusconi bildete mit den Faschisten des in Alleanza Nazionale (AN) umgetauften MSI seine zweite Regierung. Deren Anführer Gianfranco Fini wurde Vize-Premier. Mit Mirko Tremaglia übernahm ein SS-Offizier aus der Salò-Repubik Mussolinis und Revanchist ein dazu wie geschaffenes Ministerium für »Auslandsitaliener«. Der rechtsextreme Charakter der »Casa della Libertà« wurde durch die Zugehörigkeit der beiden kleinen Nachfolger der früheren Democrazia Cristiana (DC), Christlich Demokratische Union (CDU) und Christlich-Demokratisches Zentrum (CCD) kaschiert.

Das »demokratische« Outfit seines Kabinetts verstärkte der Forza-Chef weiter durch vier parteilose Politiker. Eine Schlüsselrolle kam dem früheren WHO-Direktor Renato Ruggierio zu, der das Außenministerium übernahm, um ein »gutes Image« gegenüber der EU und als langjähriger Botschafter in Washington die von Berlusconi erklärten »besonderen Beziehungen« zu den USA zu pflegen.

Keine Einwände in Brüssel

Berlusconis Verschleierungsmanöver wurden durch die Haltung der EU begünstigt. Deren Sanktionspolitik gegenüber Österreich war zwar halbherzig und umstritten, hatte aber immerhin eine moralische Verurteilung der Aufnahme der rechtsextremen Freiheitlichen Partei Österreichs (FPÖ) unter Jörg Haider in die Regierung dargestellt. Dass solche Schritte gegenüber Berlusconis FI, der AN und der Lega –zusammen in einer Koalitionsregierung weitaus gefährlicher als die FPÖ des Kärtners – unterblieben, verlieh der faschistischen Exekutive in Rom nachgerade einen demokratischen Heiligenschein.

Kräftig an diesem »demokratischen Outfit« wirkten die »christlichen« Parteien CDU/CSU der Bundesrepublik Deutschland samt Medien wie die »Frankfurter Allgemeine Zeitung« (FAZ), das »Zentralorgan der deutschen Großbourgeoisie«. oder das Springer-Blatt »Die Welt« mit. Bayerns Regierungschef Stoiber übermittelte Berlusconi postwendend eine Einladung zum Staatsbesuch in Bayern, der nach den faschistischen Ausschreitungen in Genua demonstrativ eine weitere zum CSU-Parteitag folgte. Die »Frankfurter Allgemeine Zeitung« bescheinigte am 15. Mai 2001 der faschistischen Koalition »demokratische Legitimität« und gab der Hoffnung Ausdruck, mit dem Wahlsieg Berlusconis möge die Ablösung der sozialdemokratisch geführten Regierungen in der EU beginnen

Mit der »Hinterlassenschaft der Linken« aufräumen

Vom 18. bis 22. Juli 2001 fand in Genua der G8-Gipfel statt. Nachdem Berlusconi bereits während des Wahlkampfes seine Absicht verkündet hatte, in Italien »Ordnung zu schaffen« und mit der »Hinterlassenschaft der Linken« aufzuräumen, wollte er ein für alle Male demonstrieren, wer der Herr im Hause ist. Auf einem vorangegangenen Gipfel in Göteborg erklärte er bei einem Treffen der mehrheitlich sozialdemokratischen Regierungschefs der EU provokatorisch, Italien von Kommunisten und Ex-Kommunisten (den sozialdemokratischen Linken) »zu befreien«.

Nach den G8-Treffen in Seattle, Prag und Göteborg fanden in Genua die seit Jahren größten Massenproteste gegen weltweite imperialistische Ausbeutung und Unterdrückung, gegen NATO-Aggressionen und Staatsterror statt, der mit den USA an der Spitze im Nahen Osten wie auch anderswo in der Welt praktiziert wurde. Triebkraft dieser Aktionen war, dass auf dem Gipfel als Gastgeber Berlusconi nicht nur als Regierungschef, sondern in seiner Gestalt als der reichste Kapitalist des Landes auftrat. Stellte man weiter in Rechnung, dass bei diesem Mann die Bewunderung für Hitler und Mussolini und der eigene, autoritäre und faschistische Züge beinhaltenden Führungsstil mit hemmungsloser Geltungssucht zusammentrafen, dann war für Genua eine bis dahin nicht gekannte Repression geradezu vorprogrammiert.

Eine »chilenische Nacht«

Was sich dann in der Stadt, besonders in der Nacht während des Gipfels abspielte, wurde von Augenzeugen in zahlreichen Medien als eine »chilenische Nacht« geschildert. Genua war eine »Stadt im Kriegszustand«, das Vorgehen der Sicherheitskräfte war verfassungswidrig, »Recht und Gesetz außer Kraft gesetzt«, lauteten die Einschätzungen, von der linken Zeitungen »Liberazione« und »Manifesto«, der nunmehr PDS-Zeitung »Unità« und des damalige Sprachrohrs der linken Mitte »Repubblica« – bis zum großbürgerlichen »Corriere della Sera« und weiteren regierungskritischen Blättern. Während des Gipfels wurden über 600 Personen festgenommen und in »Gefangenensammelstellen« zusammengepfercht. Mehr als 300 Demonstranten, darunter zahlreiche Ausländer, wurden zum Teil schwer verletzt.

Eine nächtliche Operation gegen das Pressequartier in der Diaz-Schule, in der auch das Genueser Sozialforum (GSF) untergebracht war, wurde im Polizeijargon als »Sturmangriff« bezeichnet. In der Diaz-Schule wurden 54 Personen blutüberströmt und schwer verletzt festgenommen. Laut Pressemeldungen und Zeugenaussagen wurden Festgenommene, darunter auch Verletzte, unter Hitler- und Mussolini-Bildern gefoltert und wurden gezwungen, »Viva il Duce« zu rufen.

Polizisten, die sich von den Brutalitäten distanzierten, sagten aus, dass die Ordnungskräfte gewaltsame Ausschreitungen, zu denen es auf Seiten der Demonstranten kam, nicht nur selbst provozierten, sondern regelrecht organisierten, um Vorwände für ein gewaltsames Vorgehen zu schaffen. Die Angriffe lösten in den »schwarzen Block« der Anarchisten eingeschleuste Polizeiagenten, darunter Faschisten der Forza Nuova, aus.

Der Regisseur Davide Ferrario filmte Polizeioffiziere bei der Zusammenarbeit mit »Schwarzblock«-Agenten. Der Arzt und Präsident der italienischen Liga zur Aids-Bekämpfung, Vittorio Agnoletto, erklärte, in Genua habe eine Operation wie in Chile unter Pinochet stattgefunden. AN-Führer und Vizepremier Fini hielt sich während des G8-Gipfels in der Genueser Polizeizentrale auf und leitete persönlich die faschistischen Repressionsattacken.

Ziel: ein autoritäres faschistisches Regime

Genua zeigte, dass in diesem Klima hemmungsloser Repression viele der im faschistischen Geist aufgewachsenen und erzogenen Polizei-Offiziere glaubten, die im MSI jahrzehntelang propagierte »Stunde X«, die Zeit der Abrechnung mit den Linken, sei gekommen. So war in Genua das an mehreren Putschversuchen beteiligte elitäre Carabinieri-Korps in vorderster Linie eingesetzt, darunter Einheiten aus Süditalien, den Hochburgen der Faschisten.

Einer dieser Carabinieri tötete den Studenten Carlo Giuliano von einem Jeep heraus gezielt mit einem Schuss.

PRC-Sekretär Fausto Bertinotti erklärte in »Liberazione« vom 24. Juni, Ziel sei gewesen, eine politische Wende in Richtung eines faschistischen oder autoritären Regimes herbeizuführen.

Professor Bodo Zeuner von der Freien Universität Berlin warnte, »wenn Polizisten, wenn Spezialeinheiten der Polizei es sich herausnehmen, politisch unliebsame Personen, wie in Genua geschehen, mitten in der Nacht zu überfallen und brutal, ja lebensgefährlich zu verprügeln, dann ist es zu Folterkellern wie denen der SA im Deutschland von 1933 nur noch ein Schritt. Wer den Überfall auf die Dias-Schule in Genua als irgendwie entschuldbar durchgehen lässt, leistet Beihilfe zu einer schleichenden Faschisierung der Gesellschaft.«

Massenproteste verhinderten terroristische Wende

Berlusconis Rechnung ging nicht in der erwarteten Weise auf. Es gelang nicht, die Gipfelgegner zur Aufgabe zu zwingen. 300.000 Menschen formierten sich nach den Knüppelattacken der Polizei in Genua zu neuen Protesten. In Italien waren es danach wenigstens eine Million. In Rom gingen an der Spitze von etwa 40.000 Demonstranten Fausto Bertinotti und die römischen Mitglieder der Nationalen PRC-Leitung.

Der PRC-Sekretär sprach von einer neuen Generation, die in Genua die Bühne des antiimperialistischen Kampfes betreten habe, welche »die kapitalistische Globalisierung« in Frage stellt. Es sei, wie er meinte, die Geburtsstunde der aus zahlreichen Organisationen bestehenden »großartigen Bewegung«, die einen »qualitativen Sprung« darstelle.

Der Protest in Italien sowie im Ausland verhinderte, dass Berlusconi und Fini diese Repression mit den Methoden von Genua weiterführen oder gar verstärken konnten.

Linke verspielte Chancen erneut

Es gelang den Linken nicht, diese Massenbewegung, die in Genua den Übergang der Regierung Berlusconi/Fini zur offen terroristischen Diktatur verhindert hatte, auszubauen und zur Zurückdrängung oder überhaupt Bändigung der faschistischen Gefahr zu nutzen. Entscheidend dafür war 2002 die revisionistische Wende im PRC mit der Absage an die führende Rolle der Arbeiterklasse im Klassenkampf. Auch ein im April 2006 bei den Parlamentswahlen nochmals errungener Sieg von Mitte Links unter Prodi wurde zwei Jahre später wieder verspielt. Ab 2008 beherrschte Berlusconis faschistische Regierung ein drittes Mal Italien, bevor er im November 2011 erneut zu Fall gebracht wurde.

 

 

 

 

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