Leitartikel26. Mai 2016

Langzeitarbeitslose ohne Chance

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Jubelüberschriften wie »Entspannung auf dem Arbeitsmarkt hält an« (»Wort«) oder »Arbeitslosigkeit geht im Mai zurück« (das »Tageblatt« über die am Vortag von der Adem veröffentlichten April-Zahlen!) tragen nicht nur zur allgemeinen Desinformation bei, sie widersprechen auch dem, was die Gewerkschaften nicht müde werden zu betonen.

In ihren gemeinsamen Beiträgen zu den Sitzungen des Wirtschafts- und Sozialrates, dem jährlichen Sozialpanorama der CSL und zu vielen anderen Gelegenheiten warnen die Salariatsvertreter, nicht nur die Zahl der Arbeitslosen befinde sich – trotz eines leichten Rückgangs seit Januar 2015 – noch immer auf einem noch vor wenigen Jahren unvorstellbaren Rekordhoch, auch der Anteil der Langzeitarbeitslosen nehme seit 1995 beständig zu.

Aus älteren Ausgaben des Adem-Bulletins geht hervor, daß im April 2010 von den 14.111 Arbeitslosen »im engeren Sinne« 5.393 oder 38,2 Prozent seit zwölf Monaten oder länger auf der Suche nach einer Anstellung waren. Im April 2015 waren von den offiziell 17.731 Arbeitslosen bereits 8.113 langzeitarbeitslos, was einem Anteil von 45,8 Prozent entsprach. Im vergangenen Monat wurden 17.040 Arbeitslose gezählt, von denen 7.969 oder sogar 46,8 Prozent seit einem Jahr oder länger auf Arbeitsuche sind.
Weil es in der Regel nach einem Jahr kein Arbeitslosengeld mehr gibt, sank der Anteil derer, die eine Entschädigung in voller Höhe erhalten, auf nur noch 40 Prozent im April 2016.

Dazu muß man wissen, daß Langzeitarbeitslosigkeit nicht nur eines der größten Armutsrisiken in unserer kapitalistischen Gesellschaft ist, sondern darüber hinaus mit gravierenden Folgen für die Gesundheit und die gesellschaftlich-kulturelle Teilhabe der Betroffenen und ihre Familien einhergeht. So sind Arbeitslose in Relation zu Erwerbstätigen doppelt so häufig von Krankheiten, Krankenhausaufenthalten oder der Behandlung mit Psychopharmaka betroffen.

Bei Personen mit mehr als zweijähriger Arbeitslosigkeit – ihr Anteil allein betrug laut Adem zuletzt 31,4 Prozent – steigt einem Bericht des Berufsverbands Deutscher Psychologinnen und Psychologen zufolge das Sterblichkeitsrisiko auf das 3,8-Fache gegenüber in Beschäftigung stehenden Menschen. Bereits 2008 wurde in den USA eine Langzeitstudie veröffentlicht, die empirisch nachwies, daß Arbeitslose unabhängig von anderen Faktoren wie Rauchen, Übergewicht und Diabetes einem rund zweieinhalb mal höheren Risiko für Schlaganfälle und Herzinfarkte ausgesetzt sind als arbeitende Gleichaltrige.

Hinzu kommt, daß mit der Dauer der Arbeitslosigkeit der Grad der »Entqualifizierung«, der Entwertung der bisher erlangten Berufsqualifizierung, steigt, was eine neue Anstellung noch unwahrscheinlicher macht. In vielen Fällen wirkt sich Erwerbslosigkeit auch auf die folgende Generation aus, denn Kinder von Arbeitslosen, insbesondere die von Langzeitarbeitslosen, haben schlechtere Chancen, geistig und körperlich gesund aufzuwachsen.
Ältere Arbeitslose, die jahrelang an eine feste Arbeitsstruktur gewöhnt waren, und alleinstehende Männer, die zu vermehrter Isolation neigen, sind Studien zufolge stärker von den psychischen Folgen der Erwerbslosigkeit betroffen. Folgen können Depressionen, Suchterkrankungen und eine durch Hoffnungslosigkeit und Lebensunlust erhöhte Suizidneigung sein.

Wann bekämpft die Regierung statt der Arbeitslosen endlich die Arbeitslosigkeit?

Oliver Wagner