Ausland17. März 2022

Hungern oder Frieren an der Heimatfront

von Jörg Kronauer

Die Front ist noch weit weg, aber in der Heimat schließen sich die Reihen. Es entsteht die Heimatfront. Das geschah zum ersten Mal in großem Maßstab im kaiserlichen Deutschland im Ersten Weltkrieg, und während dieser Zeit kam auch der Begriff auf. Die Front kam da in mehrfacher Hinsicht in die Heimat. Zum einen trugen die ersten Luftangriffe bereits 1914 den Tod in Städte weit entfernt von den kämpfenden Truppen; gestorben wurde von nun an nicht mehr nur im Angesicht des Feindes draußen im Feld, sondern auch vor der eigenen Tür, gar im eigenen Haus. Die Entgrenzung des Krieges vom Schlachtfeld auf potentiell das ganze Land, die gesamte Bevölkerung, die im Lauf des 20. und 21. Jahrhunderts umfassend wurde, lieferte die Gesellschaft vollständig dem Kriegsgeschehen aus: Die Front kam heim.

Zum anderen brachte der moderne Krieg denjenigen, die nicht mit der Truppe ausgerückt waren, auch jenseits der wachsenden Todesgefahr immer mehr Zumutungen. Die Industrie wurde in steigendem Maße auf die Produktion für den Krieg umgestellt, der immer größere industrielle Kapazitäten beanspruchte, immer mehr Rohstoffe verschlang und immer mehr Arbeitskraft forderte; im Ersten und im Zweiten Weltkrieg schnellte jeweils die Erwerbstätigkeit von Frauen rasant in die Höhe.

Zu den Zumutungen gehörte, daß Lebensmittel knapp wurden und rationiert werden mußten, die Armut wuchs rasant. Die immer härteren Belastungen, die wachsende gesellschaftliche Mobilisierung für den Krieg mußten vermittelt, begründet werden: Der Gedanke, man müsse zu Hause, in der Heimat seinen Beitrag leisten, damit die Front aufrechterhalten werden könne, faßte Fuß.

Daß die Heimatfront steht, ist Voraussetzung für jeden Krieg. Entsprechend wurden dafür seit je alle Mittel der Propaganda eingesetzt, die auf dem jeweiligen technologischen Niveau verfügbar waren – von der Zeitung über Plakate bis zum Rundfunk; heute kommen noch die gewaltigen Möglichkeiten der virtuellen Welten hinzu.

Das erste Opfer eines jeden Krieges ist die Wahrheit, was nicht zuletzt der Tatsache geschuldet ist, daß die Heimatfront gesichert, daß die Bevölkerung bei Laune gehalten werden muß. Daher werden auch in jedem Krieg, zuweilen auch schon vor dem ersten Schuß, Feindsender ins Visier genommen: Sie bedrohen die Meinungskontrolle und gefährden damit die Heimatfront. Und wenn die ideologische Kontrolle nicht mehr ausreicht, dann kommt zu ihrer Sicherung stets brutale physische Repression hinzu.

Läßt sich die Heimatfront nicht aufrechterhalten, wird es für die Herrschenden kritisch. Im Ersten Weltkrieg trieb der Hunger die Menschen in Deutschland schon 1916 in größerem Umfang auf die Straßen, führte zu Plünderungen, die mit harter Repression unterbunden wurden; aus der Perspektive derjenigen, die den Krieg führten, verursachte das Reibungsverluste, schwächte die Ressourcen. Immer wieder flackerten Proteste auf, bis Anfang 1918 der Januarstreik im Kaiserreich der Heimatfront einen schweren Schlag versetzte: nicht nur, daß Massen die Arbeit niederlegten und »Frieden und Brot!« forderten; die desolate Entwicklung im Innern trieb die Menschen auf einmal revolutionären Organisationen zu. Die Risse in der Heimatfront wurden damit nicht nur für die Fortsetzung des Krieges, sondern für die Herrschenden ganz prinzipiell gefährlich.

Was freilich geschehen kann, wenn es nicht gelingt, die Heimatfront wirksam zu stören, zu erschüttern, zu brechen, das hat der Zweite Weltkrieg gezeigt: Dann steht irgendwann die komplette Front in ihrer ursprünglichen Bedeutung, die Kontaktlinie zwischen den eigenen und den feindlichen Truppen, vor der Tür, kehrt heim.