Ausland04. Juni 2010

Auf Provokationskurs

Nach dem Untergang der Korvette »Cheonan« bei einem Seemanöver der USA und Südkoreas: Während Seoul und Washington Sturm blasen, wollen Peking und Moskau die Wogen glätten – Teil 1

Es sei »möglich, daß eine nordkoreanische Seemine in unser Gebiet getrieben ist«, sagte Südkoreas Verteidigungsminister Kim Tae-Young am 28. März, zwei Tage nach dem Sinken der südkoreanischen Korvette »Cheonan« im Gelben Meer, bei dem 46 Matrosen den Tod fanden. In einem Interview mit der Nachrichtenagentur Associated Press (AP) fügte der Minister hinzu, daß man keine Absichten dahinter vermute. Nordkorea habe während des Koreakrieges (1950-53) etwa 4.000 solcher Minen gelegt, von denen nach der Unterzeichnung des Waffenstillstandsabkommens am 27. Juli 1953 nicht alle entdeckt und gehoben worden seien.

Gleichzeitig erklärte ein Sprecher im Blauen Haus, dem Amtssitz des südkoreanischen Präsidenten, gegenüber der Tageszeitung »The Korea Herald«, von den vier möglichen Gründen für den Untergang der »Cheonan« – interne Explosion, Kollision mit einem Riff, Explosion einer Seemine oder ein Torpedoangriff – sei eine explodierte Seemine der wahrscheinlichste für die Katastrophe: »Es könnte sich dabei um eine Mine handeln, die wir verlegt und später nicht geborgen haben, oder es könnte auch eine nordkoreanische Mine gewesen sein, die vom Norden her in unsere Gewässer getrieben ist.« Gegenüber der »Korea Times« pflichtete dieser Version Won See-Hoon, der Direktor des südkoreanischen Nationalen Sicherheitsdienstes, bei.

Dann dauerte es fast zwei Monate, bis eine internationale zivil-militärische Untersuchungskommission südkoreanischer, US-amerikanischer, australischer, britischer und schwedischer Experten am 20. Mai in einem fünfseitigen Report zu dem Ergebnis gelangte, daß »offensichtlich« ein nordkoreanischer Torpedoangriff für das Unglück am 26. März verantwortlich gewesen sei. Was dann rasch folgte, war ein Aufschrei der Empörung in Seoul, Tokio und Washington sowie in vermeintlichem Gehorsam auch seitens mehrerer EU-Staaten, war hartnäckige Nichtparteinahme Pekings, betretene Mienen in Moskau und scharfe Dementis aus Nordkoreas Hauptstadt Pjöngjang.

Was also stimmt? Trifft der Untersuchungsbericht zum »Cheonan-Vorfall« zu, wären Südkorea, die USA und Japan in der komfortablen Lage, daraus politisch kräftig Kapital zu schlagen. Sollte sich der Report – und sei es in Teilen – zu einem späteren Zeitpunkt als falsch erweisen oder, wie es die staatliche nordkoreanische Nachrichtenagentur KCNA behauptet, »fabriziert« sein, wäre das zweifellos ein politisch-diplomatischer Coup der Führungsriege um den »Geliebten Führer« Kim Jong-Il – und gleichzeitig ein Husarenstreich der Nationalen Verteidigungskommission, des bedeutsamsten politischen Gremiums der Volksrepublik mit Kim als ihrem Vorsitzenden. Außerdem gewänne China als regionaler Konfliktschlichter weiteren Einfluß.

Lee und Clinton machen Druck

Südkoreas Präsident Lee Myung-Bak verkündete umgehend ein Bündel von Maßnahmen, um den Norden abzustrafen. Der Handel mit der Volksrepublik, umgerechnet etwa 250 Millionen US-Dollar im Jahr, soll weitgehend eingeschränkt werden. »Wir haben Nordkoreas Brutalität immer wieder ertragen«, so Lee in einer Fernsehansprache, »aber diesmal liegen die Dinge anders. Nordkorea wird einen Preis für seine Provokation zahlen müssen.« Doch von diesen Maßnahmen blieb bislang der auf nordkoreanischem Territorium gelegene Kaesong-Industriekomplex ausdrücklich ausgenommen. Einst als Kronjuwel einer gelungenen innerkoreanischen Kooperation gepriesen, arbeiten in ihm augenblicklich etwa 1.000 Südkoreaner und über 40.000 Nordkoreaner. Es ist vor allem Südkoreas Hyundai-Konzern, der als Wegbereiter dieses ambitionierten Nord-Süd-Projekts den größten finanziellen Schaden erlitte, würde der Komplex im Zuge einer Eskalation der Lage geschlossen. Außerdem sollen nordkoreanischen Handelsschiffen künftig nicht mehr Abkürzungen durch Südkoreas Hoheitsgewässer gestattet werden.

Lee forderte von Pjöngjang überdies eine Entschuldigung für den »Cheonan-Vorfall« und wiederholte seine Absicht, diesen vor den UNO-Sicherheitsrat zu bringen. In Zukunft werde er keine Provokationen von der nordkoreanischen Seite mehr dulden und dem Prinzip der »proaktiven Abschreckung« folgen.

Ähnlich der Tonfall von US-Außenministerin Hillary Clinton, die unmittelbar nach Bekanntwerden des »Cheonan«-Untersuchungsberichts zu einer Ostasienreise aufbrach, die sie über Tokio und Peking nach Seoul führte. Während sie auf ihrer ersten Station Premier Yukio Hatoyama zusicherte, das US-amerikanisch-japanische Verhältnis zu festigen – darunter fällt die heftig umstrittene Präsenz von GIs und Militärstützpunkten auf der Insel Okinawa –, mahnte sie gegenüber ihren chinesischen Gastgebern eine gemeinsame Verantwortung bei der Lösung der »hochprekären Lage« auf der koreanischen Halbinsel an, um in Seoul Präsident Lee volle Rückendeckung bei der Überwindung der aktuellen Krise zuzusichern. Es sei geplant, alsbald weitere gemeinsame Seemanöver abzuhalten.

Peking und Moskau deeskalieren

China übte sich zunächst in Zurückhaltung, mahnte zur Besonnenheit und begründete dies damit, daß man sich noch kein klares Bild über den »Cheonan-Vorfall« gemacht habe. Diese Position vertrat Chinas Premierminister Wen Jiabao sowohl gegenüber Clinton als auch während seines Südkorea-Besuchs am letzten Mai-Wochenende. In Seoul traf er mit Präsident Lee zusammen, um dann mit seinem Gastgeber auf die südkoreanische Insel Jejudo zu fliegen, wo beide gemeinsam mit Japans Premier Hatoyama über die aktuelle Lage auf der koreanischen Halbinsel und Sicherheitsaspekte in Nordostasien konferierten.

Dort beschwichtigte Wen: »Wir müssen Frieden und Stabilität in Nordostasien durch alle nur denkbaren Anstrengungen fördern. Bei schwierigen Problemen sollten wir einander rücksichtsvoll begegnen, vernünftig mit sensiblen Dingen umgehen und das politische Vertrauen untereinander stärken.« Wenngleich China der mit Abstand wichtigste Handelspartner und politische Verbündete Nordkoreas ist und dessen Machthaber Kim Jong-Il erst Anfang Mai zu einem Staatsbesuch willkommen hieß, gab es unterschwellig doch auch eine leise, an die Adresse Pjöngjangs gerichtete Kritik, alles in seinen Kräften Stehende zu unternehmen, um zur vollständigen Aufklärung der Ereignisse vom 27. März beizutragen. Pekings Sonderemissär Wu Dawei sprach von einer »komplizierten Lage«.

Die russische Regierung manövrierte sich anfangs in eine heikle Situation. Alexander Zhebin, Leiter der Korea-Studien am Institut für Fernost der russischen Wissenschaftsakademie, kommentierte die Entscheidung des Kreml, russische Fachkräfte nach Südkorea zu entsenden, um vor Ort in das Beweismaterial zum Untergang der »Cheonan« Einblick zu nehmen: »Wir mischen uns in eine Schlägerei ein, die wir nicht initiiert haben. (…) Wenn wir die Schlußfolgerungen der südkoreanischen Expertenkommission nicht akzeptieren werden, bringen wir die USA und Südkorea in eine unbequeme Lage. Falls wir diesem Expertenbericht zustimmen, könnte das uns von China entfremden.« Am 31. Mai sind nun auf Seouls Wunsch russische Wissenschaftler in der südkoreanischen Hauptstadt gelandet, um unabhängig von den bisherigen Untersuchungen den Korvettenuntergang zu beurteilen. Gestern trafen sich Vertreter beider Außenministerien.

Rainer Werning