Ausland03. Oktober 2023

Überleben in Syrien

Begegnungen auf den Märkten in Damaskus

von Karin Leukefeld, Damaskus

Abseits des breiten Mezzeh Highway liegt Scheich Saad, ein beliebter Markt im alten Teil von Mezzeh, einem Stadtteil von Damaskus. Der Highway führt von der Innenstadt von Damaskus zur Autobahn nach Beirut. Rechts und links entlang der vielbefahrenen Straße stehen mehrstöckige Wohnhäuser neben Schulen, den Büros der syrischen Mobilfunkgesellschaften, dem Gerichtsgebäude, einem Sportkomplex und Regierungsgebäuden. Kurz bevor man die Autobahn nach Beirut erreicht, befindet sich linker Hand ein Wohnviertel, in dem viele Botschaften früher ihre Residenzen hatten.

Alt-Mezzeh duckt sich eher unauffällig an den Fuß des Hügels, auf dem der Präsidentenpalast liegt. Die französische Schule, ein Krankenhaus, Moscheen – die Einheimischen, die hier unterwegs sind, wirken ruhig und gelassen.

Früher konnte man auf Scheich Saad gute Geschäfte machen, sagt Herr Maher, der seit dem Jahr 2000 einen Laden für Herrenbekleidung führt. Auf die Frage, wie seine Geschäfte heute verglichen zu damals seien, blickt er ungläubig auf. »Verglichen zu damals? Sie können die Zeit damals überhaupt nicht mit heute vergleichen«, sagt er kopfschüttelnd. »Heute leben die Menschen von einem Tag auf den anderen aus der Hand Gottes. Damals waren unsere Geschäfte so gut, daß wir uns jedes Jahr einen neuen Laden hätten kaufen können.«

Kundschaft aus aller Welt sei über die syrischen Märkte geströmt, die syrischen Textilien seien weltweit bekannt gewesen für ihre gute Qualität. Nur 25 Prozent der damaligen Waren seien aus dem Ausland gekommen, während 75 Prozent der Hemden, die verkauft wurden, damals aus syrischer Produktion stammten. »Jeden Wunsch konnten wir uns und unseren Kindern erfüllen«, sagt Herr Maher und hängt einen Moment seinen Erinnerungen nach. »Heute sind die Menschen damit beschäftigt, Essen für die Familie auf den Tisch zu bekommen. Heute geht es nur noch ums Überleben.«

Keine Energie, keine Rohstoffe, keine Arbeiter, kein Handel

Ohne Hilfe von Angehörigen aus dem Ausland sei ein Leben in Syrien nicht mehr möglich, sagt der Textilhändler. »Nicht in Syrien, nicht im Libanon, nicht für die Flüchtlinge, egal, wo sie sind.« Niemand wolle oder könne in Syrien investieren, Unternehmen gingen pleite. »Wir können nicht exportieren, wir können nicht importieren«.

Herr Maher hebt fragend die Arme: »Die Fabriken haben keine Energie, keine Rohstoffe, keine Arbeiter und können ihre Maschinen nicht reparieren – was sollen wir tun?« Der vor 2011 boomende Handel sei eingebrochen. »Erst der Krieg, dann die Belagerung, die Wirtschaftssanktionen, die Inflation.« Früher sei die syrische Gesellschaft füreinander eingetreten und habe sich gegenseitig geholfen. Heute denke jeder nur noch an sich und ans Überleben.

Die berühmte Textilproduktion Syriens ist eingebrochen. Die gute Baumwolle, die seit den 1950er Jahren im östlichen Euphrat-Tal angebaut wurde, wird heute im Nordirak oder in der Türkei von den kurdisch geführten Syrischen Demokratischen Kräften (SDK) und mit ihnen kooperierenden Geschäftsleuten verkauft. Die Unternehmen in Aleppo gehen leer aus und müssen Baumwolle aus Indien oder Pakistan teuer einführen. Die syrischen Unternehmen könnten nicht mehr die Qualität an Stoffen liefern, wie früher, bestätigt auch der Textilhändler Maher, die Produktion sei deutlich zurückgegangen.

»Sehen Sie draußen auf dem Gehweg und rechts und links von mir die Geschäfte mit den Kleidern aus zweiter Hand? Da kaufen die Leute heute ein, weil sie für ein Hemd oder eine Hose von guter Qualität kein Geld mehr haben.« Die Herrenhemden im Laden von Herrn Maher kosten zwischen 130.000 und 150.000 Syrische Pfund, umgerechnet sind das zwischen 10 und 12 Euro. Ein T-Shirt kostet die Hälfte, für ein sehr gutes Hemd müssen bis zu 200.000 Syrische Pfund bezahlt werden. »Für den Preis habe ich keine Hemden mehr in meinem Laden«, sagt der Händler. »Die Menschen, die hier in Alt-Mezzeh wohnen, haben dafür kein Geld mehr.« Höchstens 300.000 Syrische Pfund, weniger als 30 Euro, stehen Angestellten und Beamten heute zur Verfügung. Ein Arbeiter verdient mit rund 250.000 Syrischen Pfund deutlich weniger.

Auf dem Bab Srijeh Markt

Ein großer Markt für Kleider zweiter Wahl befindet sich in Midan, parallel zu einem anderen sehr beliebten volkstümlichen Markt, dem Bab Srijeh Markt. Der Import dieser Kleidung ist verboten, doch sobald die Kleider auf den Ständen liegen, wird der Verkauf geduldet. Ein Grund für das Importverbot ist, daß die heimische Textilproduktion geschützt werden soll. Ein anderer Grund ist, daß in den fest verpackten Kleiderbündeln, die aus aller Herren Länder geliefert wurden, Drogen oder Waffen geschmuggelt wurden. Immer wieder gibt es Razzien an den Ständen, doch der Verkauf wird heute geduldet, weil die Menschen sich kaum noch etwas anderes leisten können.

Die Händler für Kleider zweiter Wahl auf Bab Srijeh lehnen fast alle ein Gespräch ab. Schließlich erklärt sich Herr Ibrahim bereit, ein paar Fragen zu beantworten. Der Mann wirkt müde, als er sagt, daß er an diesem Tag nicht mehr als 150.000 Syrische Pfund eingenommen habe, etwa 11 Euro. Zwei junge Männer helfen ihm, die Jacken, Mäntel und Hosen auf Bügel zu hängen, man bereitet sich auf den Winter vor. Vor dem Geschäft stehen große Tische, auf denen T-Shirts, Blusen, Hemden und viele mehr durcheinanderliegen. Junge Leute, zumeist junge Frauen, wühlen in den Sachen herum, nehmen das eine oder andere Stück hoch und halten es prüfend ans Licht.

Vor dem Krieg sei sein Geschäft gut gegangen, erinnert Herr Ibrahim sich wehmütig. Dann sei er zum Militärdienst eingezogen worden und sei von einer Front zur nächsten gezogen. Nach 2016 habe sich die Lage etwas entspannt und er habe im Umland von Damaskus gedient. Abends konnte er nach Hause, nachmittags konnte er wieder im Laden arbeiten. »Ich weiß nicht, was mit unserem Land passiert ist«, sagt er schulterzuckend. »Es ging uns so gut und trotzdem haben wir den Kräften von außen geholfen, den Krieg in unser Land zu bringen!« Mindestens zehn Jahre werde es dauern, bis Syrien sich wieder einigermaßen erholen könne. Doch irgendwie falle es ihm schwer, sich das vorzustellen: »So schlecht ging es Syrien in meinem Leben noch nie und alle jungen Leute wollen nur noch weg von hier.«

Fußballgroße Auberginen

Einige Straßen weiter werden auf dem Bab Srijeh Markt Fisch und Fleisch, Gemüse, Obst und Käse wie eh und je zum Verkauf angeboten. Die Händler haben Zitronen, Weintrauben und Nüsse kunstvoll zu Pyramiden aufgestapelt. Dazwischen prangen fast fußballgroße Auberginen, die von den Menschen »Ei von der Kuh« genannt werden.

Ein junger Mann blickt interessiert hinter der hohen Theke seines Ladens hervor. Hier gibt es Honig und Nüsse, verschiedene Sorten weißen Ziegen- und Schafskäse, Kaffee, Milch und viele andere Produkte zu kaufen. Dünnes, zu einem Viereck zusammengefaltetes Brot aus Sweida liegt oben auf der Theke und findet raschen Absatz.

Bis auf den Reis und den Zucker komme alles aus Syrien, sagt der Mann und stellt sich als Mohamed Hejazi vor. Der Laden gehöre seinem Vater, der seit 50 Jahren Händler auf dem Bab Srijeh Markt sei. Die Geschäfte gingen nicht so gut wie früher, doch sie könnten immer noch etwas verkaufen, sagt er und beantwortet geduldig den zahlreich anstehenden Kunden Fragen nach Preisen und Herkunft der Waren.

Auf der einen Seite der Theke kauft eine blaß aussehende Frau 250 Gramm Käse und etwas Joghurt in einem Plastikbeutel. Auf der anderen Seite wird für Frauen, die in prächtige Gewänder gekleidet sind, mehrere große runde Plastikschalen mit verschiedenen Sorten Käse eingepackt. »Hier sehen Sie den Unterschied zu unseren Kunden«, lacht Hejazi. »Die Syrer kaufen kleine Mengen, weil sie kaum Geld haben. Die Frauen aus dem Libanon haben offenbar viel Geld und kaufen viel. Hier in Syrien ist es noch immer billiger, als im Libanon.«

Grießbrei zum Geburtstag des Propheten

Aus einem Lautsprecher schallt laute Musik, die Mohamed, den Propheten ehrt, dessen Geburtstag in diesen Tagen von Muslimen gefeiert wird. Mitten auf dem Gehweg steht ein Mann und rührt unermüdlich in einem großen Metallkessel Milch und Gries zu einem Brei. Der Kessel wird von einer Gasflamme erhitzt, Jungen mit Schüsseln in den Händen umringen den Mann und blicken mit großen Augen in den Kessel.

»Bitte nehmen Sie eine Schüssel«, bietet der junge Mann an. »Heute ist der Geburtstag unseres Propheten Mohamed und wir wollen das feiern.«

Beobachtet wird das Geschehen von einigen Männern in einem Fleischgeschäft. Bis auf ein Fleischstück sind die Haken leer, die Messer liegen unbenutzt auf den Tischen. Einige Stücke liegen unter einem Tuch, um sie vor den herumschwirrenden Fliegen zu schützen.

Die Geschäfte gehen schlecht, sagt Herr Schadi, der den Laden vor 25 Jahren von seinem Vater übernommen hat. Er habe schon als Kind seinem Vater geholfen, nach der Schule. Herr Schadi verkauft Lammfleisch, das die Kunden besonders mögen. Doch zum Überleben sei es nicht erforderlich und es sei sehr teuer. Ein Kilo koste heute zwischen 130.000 und 150.000 Syrischen Pfund.

Viele seiner Kunden seien früher aus den Vororten von Damaskus gekommen, sie kommen nicht mehr. »Die Leute haben einfach kein Geld mehr, ihr Gehalt, ihr Einkommen reicht nicht. Kein Geld für den Bus, kein Geld um Fleisch zu kaufen«, sagt Herr Schadi. »Selbst heute am Geburtstag unseres Propheten Mohamed haben wir kaum etwas verkauft. Die Menschen können sich nicht einmal Bonbons für die Kinder leisten.« Die meisten hätten von den drei Mahlzeiten, die sie früher am Tag essen konnten, mindestens eine Mahlzeit gestrichen. »Wir essen nur noch einmal am Tag, und Fleisch haben wir vergessen.«

Neben Herrn Schadi steht ein hochgewachsener Jugendlicher, der 16 Jahre alt ist. »Er kennt Syrien gar nicht, wie es früher war«, sagt Herr Schadi und klopft dem jungen Mann auf den Rücken. »Wenn er heiraten wollte, braucht er Millionen um eine Wohnung zu finden, um Gold und alles für die Braut zu bringen. Wie soll er das jemals bezahlen können? Er bekommt hier vielleicht 200.000 Syrische Pfund, wie soll er jemals eine Hochzeit bezahlen können?«

Er und seine Arbeiter überlebten nur, weil sie von Angehörigen ab und zu etwas Geld aus dem Ausland erhielten. Darum werde er auch niemanden entlassen, denn ohne die Arbeit, ohne wenigstens ein geringes Einkommen hätten sie nichts mehr. »Wir sind wie eine Familie und halten zusammen. Wir haben zusammengearbeitet, als die Zeiten besser waren und wir werden auch jetzt zusammenbleiben. Wir hoffen auf Gott, daß es uns eines Tages wieder besser geht.«

Drei Stunden Strom

In einem privat von Kirchen vorgelegten Bericht über die Lage in Damaskus vom 25. September 2023 heißt es, daß die Lage »stabil und weitgehend sicher« sei. Die Stromversorgung sei in manchen Gebieten der Hauptstadt »3:3 Stunden«, d.h. drei Stunden mit Strom, drei Stunden ohne Strom. Meist gebe es allerdings zwei Stunden Strom und vier Stunden keinen Strom, in den Gebieten außerhalb des Stadtzentrums und in den Vororten sei die Stromversorgung schlechter. 1 Stunde Strom und 5-7 Stunden ohne Strom. Weiter außerhalb gäbe es oft nur 1 oder 2 Stunden Strom am Tag.

Besser sei es mit der Wasserversorgung, die von der Fijeh-Quelle mindestens zwölf Stunden pro Tag gesichert sei. Nur in manchen Gebieten sei die Wasserversorgung mit wenigen Stunden pro Tag eingeschränkt.

Es herrsche Mangel an Benzin, Heizöl, Strom und Kochgas. Die Preise auf den Märkten und für den Transport seien hoch und stiegen weiter an. Die Armut sei groß, viele Menschen hätten nicht genug zu essen. Die Zahl der bettelnden Menschen nehme ebenso zu wie die Zahl der Diebstähle. Viele Familien könnten sich nicht mehr als eine ausreichende Mahlzeit pro Tag leisten.