Ausland05. Juni 2024

EU auf Kurs der Expansion

Vor 20 Jahren nahm die Europäische Union zehn weitere Staaten auf. Der Drang nach Osten war damit nicht befriedigt (2. Teil)

von Jörg Kronauer

Wohin der Versuch geführt hat, die Ukraine nicht per Freihandelsabkommen, sondern mit »expansivem Ehrgeiz« der EU zu assoziieren, ist bekannt. Diejenigen aus Wirtschaft und Gesellschaft in der Ukraine, die enge Bindungen an Rußland unterhielten, und das war ein erheblicher Anteil, waren in Sorge, ihre Beziehungen zum Nachbarland könnten ernsten Schaden nehmen.

Die Regierung in Kiew unter Präsident Wiktor Janukowitsch war deshalb bemüht, in Dreierverhandlungen mit Brüssel und Moskau einen Abgleich zu finden. Rußland war dazu bereit, die EU aber nicht. Am 20. November 2013 setzte Janukowitsch die längst geplante Unterzeichnung des Assoziierungsabkommens mit der EU aus. Am Abend des 21. November begannen auf dem Kiewer Maidan Proteste, die letztlich zum Sturz der Regierung Janukowitsch und zur Installierung einer hart prowestlichen Regierung führten.

Am 27. Juni 2014 unterzeichnete der neue Präsident Petro Poroschenko das Assoziierungsabkommen mit der EU. Am 1. September 2017 trat es in Kraft. Zuvor aber hatte die jüngste Runde der EU-Ostexpansion per Assoziierung die Ukraine gespalten: Die rußlandnahe Bevölkerung der Krim hatte ihre Halbinsel per Volksabstimmung in die Russische Föderation geführt, der gleichfalls auf Moskau orientierte Donbass versank angesichts militärischer Attacken Kiews unter der Bezeichnung »Antiterroristische Operation« (ATO) im Bürgerkrieg.

Aus Sicht Deutschlands und der EU war die Assoziierung, die ihnen alle Vorteile bot, ohne zu größeren Leistungen zu verpflichten, der optimale Weg der Anbindung der Ukraine, Moldawiens und Georgiens, die beiden letzteren unterzeichneten am 27. Juni 2014 gleichfalls ein Assoziierungsabkommen mit der EU, das am 1. Juli 2016 in Kraft trat.

Ein ukrainischer EU-Beitritt ist erst seit dem Beginn des aktuellen Ukraine-Kriegs ernsthaft im Gespräch. Zunächst war Brüssel dabei bestrebt, die Sache auf die übliche Weise zu lösen – Kiew eine Mitgliedschaft in Aussicht zu stellen, sobald alle Kriterien dafür erfüllt seien, freilich in der Überzeugung, dazu werde es ohnehin nie kommen.

Auf dieser Grundlage wurde die Ukraine am 23. Juni 2022 offiziell zum EU-Beitrittskandidaten erklärt. Dieser Status kann sehr lange beibehalten werden, die Türkei etwa hat ihn schon seit 1999 inne, ohne daß noch irgend jemand in Brüssel oder in Ankara ernsthaft an die Aufnahme in die Union glaubt.

Allerdings wuchsen im Lauf der Zeit dann doch die Zweifel, daß die Methode »versprechen und aussitzen« im Fall der Ukraine auf Dauer durchzuhalten sei. Ende Juni 2023, das berichtete wenig später die »Financial Times«, wurde der ukrainische EU-Beitritt, den man noch wenig zuvor als »absurd« eingestuft hatte, zum ersten Mal ernsthaft auf der Ebene der Staats- und Regierungschefs der EU diskutiert. Klar war: Eine mögliche nächste Runde einer vollgültigen Osterweiterung würde immense Probleme schaffen.

Überdehnte Union

Das betrifft zunächst die Kosten. Die Ukraine könnte, würde sie aufgenommen, gewaltige Mittel aus dem Agrarhaushalt und aus dem Kohäsionsfonds in Anspruch nehmen, der »ärmere« Mitgliedstaaten gezielt fördern soll. Die EU-Kommission hatte im Sommer 2023 detaillierte Berechnungen angestellt – davon ausgehend, daß die EU wohl kaum allein die Ukraine aufnehmen könne, sondern vielmehr auch Moldawien, Georgien und die Länder Südosteuropas in einer ähnlich großen Runde der Osterweiterung wie im Jahr 2004 integrieren müsse.

Den EU-Haushalt werde man in diesem Fall von 1,21 Billionen Euro um 21 Prozent auf fast 1,47 Billionen Euro aufzustocken haben. Daraus würden 186 Milliarden Euro allein in die Ukraine fließen – ein gutes Achtel des gesamten Budgets. Erheblich mehr einzahlen müßten dann vor allem Deutschland, Frankreich und die Niederlande, einige heutige Nettoempfänger würden zu Nettozahlern. Da die ukrainische Landwirtschaft riesige Flächen bewirtschaftet und 14 Prozent der Bevölkerung beschäftigt, bliebe aus dem Agrarhaushalt erheblich weniger für die Bauern in der heutigen EU übrig, etwa für die Landwirte in Deutschland und in Frankreich, ergaben die Berechnungen der Kommission. Klar ist: Da liegt viel Konfliktpotential.

Hinzu kommt, daß die Ukraine als Mitgliedstaat volles Stimmrecht erhielte – was auch für die Staaten Südosteuropas, Moldawien und Georgien, gälte. Nimmt man die Bevölkerungszahl der Ukraine aus dem Jahr 2020 als Grundlage, dann könne der ukrainische Staat, so rechnete die SWP im Oktober 2022 vor, bei Abstimmungen mit qualifizierter Mehrheit »auf einen Stimmenanteil von etwa acht bis neun Prozent hoffen«, ungefähr genausoviel wie heute Polen. Das brächte wohl die gesamte machtpolitisch penibel austarierte Balance zwischen dem jeweiligen Stimmgewicht der einzelnen EU-Staaten ins Wanken.

So hätten heute etwa, hielt die SWP fest, Deutschland und Frankreich »einen Anteil von etwa einem Drittel«; da fehle nicht viel zur »Blockademinderheit von 35 Prozent«. In einer nochmals erweiterten EU falle ihr Anteil auf unter 30 Prozent. Er liege dann zudem unter dem Anteil aller Staaten Ost- und Südosteuropas zusammengenommen, die mit den neuen Mitgliedstaaten auf rund 32 Prozent kämen. Sie wären gemeinsam also stärker als die bislang dominanten Mächte im Westen des Kontinents. Man ahnt: Eine neue Osterweiterung erforderte aus Berliner und Pariser Sicht umfassende Umbauten beim Stimmgewicht und beim Budget.

Bei allen Schwierigkeiten bliebe ferner zu berücksichtigen, daß ein etwaiger EU-Beitritt der Ukraine in der Bevölkerung der bisherigen EU-Länder schon heute eher auf Ablehnung stößt. Eine Umfrage, die Ende 2023 im Auftrag des European Council on Foreign Relations (ECFR) in sechs Mitgliedsländern durchgeführt wurde, ergab lediglich in Dänemark (50 Prozent) und in Polen (47 Prozent) eine Zustimmung von wenigstens der Hälfte der Einwohner zur Aufnahme des Landes. Waren in Rumänien immerhin noch mehr dafür (32 Prozent) als dagegen (29 Prozent), sah es in Deutschland (37 Prozent dafür, 39 Prozent dagegen), in Frankreich (29 Prozent dafür, 35 Prozent dagegen) und in Österreich (28 Prozent dafür, 52 Prozent dagegen) schon erheblich schlechter aus.

Eine im März 2024 in 18 EU-Staaten durchgeführte Umfrage ergab ein für Kiew etwas günstigeres Bild; demnach waren 45 Prozent für den Beitritt der Ukraine, 35 Prozent dezidiert dagegen, 20 Prozent wollten sich noch nicht festlegen. Eine Welle der Begeisterung für einen ukrainischen EU-Beitritt sieht anders aus.

Sollte die EU nach Kriegsende tatsächlich um die Aufnahme der Ukraine – und wohl auch der anderen Beitrittsaspiranten – nicht herumkommen, sollte sie also die nächste Runde einer vollgültigen Osterweiterung durchführen, dann wäre nicht nur mit ihrer weitreichenden Umstrukturierung bei den Abstimmmodalitäten und beim Haushalt zu rechnen; Brüssel müßte wohl auch mit erheblichen Widerständen in der Bevölkerung rechnen.

Anders als im Falle der ersten großen Runde der Osterweiterung vor 20 Jahren, die jüngst gefeiert wurde, wären zudem die Profitchancen wohl eher begrenzt. Zwar wird der Wiederaufbau westlichen, vor allem auch deutschen Unternehmen attraktive Geschäfte eröffnen, und es lockt auch die Landwirtschaft auf den fruchtbaren Böden der Ukraine. Doch lassen sich die Vorteile für die Wirtschaft nicht annähernd mit denjenigen vergleichen, die die erste EU-Osterweiterung im Jahr 2004 insbesondere den Konzernen aus der Bundesrepublik bot. Die Kosten hingegen wären im aktuellen Fall erheblich höher. Die Möglichkeit, daß die EU sich mit einer erneuten Osterweiterung übernimmt, ist sehr real.

Jörg Kronauer