Ausland26. November 2021

Flüchtlingsdrama im Ärmelkanal

27 Insassen eines gekentertem Schlauchboots ertrunken. Die Schuld wird erneut nur bei den »Schleusern« gesucht

von Ralf Klingsieck, Paris

Im Ärmelkanal sind am Mittwoch 27 Insassen eines gekenterten Schlauchboots, mit dem sie auf dem Weg nach Britannien waren, ertrunken. Am frühen Nachmittag hatten Fischer Alarm geschlagen, als sie auf dem Wasser treibende Leichen sahen. Schnellboote des französischen und des britischen Küstenschutzes, die sofort die Suche aufnahmen, konnten nur zwei Überlebende retten. Bei den Insassen des verunglückten Bootes, unter denen sich fünf Frauen und ein kleines Mädchen befanden, handelte es sich fast durchweg um irakische und syrische Kurden.

»Frankreich wird nicht zulassen, daß der Ärmelkanal zu einem maritimen Friedhof wird«, betonte Präsident Emmanuel Macron am Mittwochabend in einer offiziellen Erklärung. Er forderte »die unverzügliche Verstärkung der Mittel, die der Agentur Frontex zu Sicherung der Außengrenzen der EU zur Verfügung stehen« und die Einberufung einer Dringlichkeitssitzung der EU-Innenminister über die »Herausforderung«, die die Flüchtlingsbewegung für die EU darstellt. Gleichzeitig versicherte er, daß »alles getan wird, um die Verantwortlichen für das Flüchtlingsdrama im Ärmelkanal ausfindig zu machen und zur Verantwortung zu ziehen«. Damit werden erneut die eigentlichen Ursachen für die Flucht ignoriert und die Schuld für das Unglück der Menschen nur bei den »Schleusern« gesucht.

Innenminister Gérald Darmanin hat sich am Mittwochabend nach Calais begeben, um mit den Regionalpolitikern und den Sicherheitskräften über die Lage vor Ort zu beraten und um im Krankenhaus die beiden Überlebenden zu besuchen. Er gab bekannt, daß bereits vier Personen verhaftet wurden, die im Verdacht stehen, zur »Schleuser«-Bande zu gehören, die die Flucht des Unglücksbootes organisiert hat. Eine fünfte Person, die das Schlauchboot in Deutschland gekauft hat, wurde am Donnerstagmorgen festgenommen.

Am Donnerstagvormittag fand in Paris unter Vorsitz von Premierminister Jean Castex eine interministerielle Krisensitzung über »das Flüchtlingsproblem« statt, an der die Innen-, Außen-, Verteidigungs-, Justiz- und Verkehrsminister sowie der Staatssekretär für Europafragen teilnahmen.

Das Unglück vom Mittwoch ist das opferreichste, seit sich ab 2018 die Fluchtversuche aufs Wasser verlagert haben. Durch immer ausgefeiltere Sicherheitsmaßnahmen ist es seitdem fast unmöglich, sich auf der Ladefläche von Lkw zu verstecken und unentdeckt per Fähre oder Eurotunnel illegal nach Britannien zu gelangen.

Der britische Premierminister Boris Johnson erklärte in einem Interview mit dem Fernsehsender Sky News, er sei »schockiert, empört und zutiefst betrübt« über das Flüchtlingsdrama und versicherte, Britannien werde »zusammen mit Frankreich künftig noch mehr tun, um die Flüchtlingen von illegalen Überfahrten über den Ärmelkanal abzuschrecken«. Die Schuld für die Situation versuchte er abzuschieben, indem der erklärte: »Wir hatten größte Schwierigkeiten, um einige unserer europäischen Partner und vor allem Frankreich davon zu überzeugen, so viel zu tun, wie es die Situation erfordert. Dem sind alle angrenzenden Länder ausgesetzt und darum müssen wir gemeinsam handeln.«

Seit einem im Jahr 2003 in Le Touquet unterzeichneten und nach dieser französischen Küstenstadt benannten bilateralen Vertrag hat Frankreich die Zuständigkeit für die Grenzkontrolle in Richtung Britannien übernommen und bekommt dafür eine jährliche Entschädigung für den Aufwand. Seit sich vor mehr als zehn Jahren die Flüchtlingsbewegung in Richtung Britannien massiv verstärkte, hat die britische Regierung wiederholt größere Summen bereitgestellt, damit in der französischen Hafenstadt Calais die Absicherung des Fährhaftens und des Eurotunnel-Terminal gegen das Eindringen von Flüchtlingen technisch und personell massiv verstärkt werden konnte.

Die Beziehungen zwischen London und Paris haben sich seit Monaten verschlechtert, nachdem Premier Johnson eine für 2021 und 2022 zugesagte Zahlung von 61 Millionen Euro zurückgehalten hat als Reaktion darauf, daß die französische Seite angeblich zu wenig getan hat, um die Fluchtbewegung zu stoppen.

Seit im Oktober 2016 der »Dschungel« von Calais von der Polizei zerschlagen wurde, wo sich zeitweise bis zu 9.000 Flüchtlinge aufgehalten hatten, irren ständig schätzungsweise ständig 1.000 bis 2.000 Flüchtlinge an der Küste zwischen Calais und Dunkerque entlang. Die Polizei tut alles, um zu verhindern, daß sich neue Lager bilden. Sie zerstört regelmäßig ihre Zelte, vertreibt die Insassen und schikaniert die Hilfsorganisationen, die sich als einzige um die Ausländer kümmern. Die Flüchtlinge warten, bis die von ihnen teuer bezahlten »Schleuser« ein Schlauchboot bringen, das innerhalb von Minuten aufgeblasen wird und meist völlig überladen in See sticht. Bis sie die Polizei entdeckt hat, sind sie meist schon so weit, daß auch die Küstenschutzboote sie nicht mehr stoppen können, weil das zu einem Unglück führen könnte. Die wiederum müssen sich darauf beschränken, sie bis zu den britischen Küstengewässern zu begleiten, um einen Zusammenstoß mit einem der zahlreichen Handelsschiffe zu verhindern.

Seit Anfang des Jahres ist bereits 25.000 Menschen auf diesem Wege die Überfahrt nach Britannien gelungen, während 8.000, deren Boot eine Panne hatte, an die französische Küste zurückgebracht wurden. Britannien ist für die Flüchtlinge aus dem Nahen Osten und Asien attraktiver als die Länder des europäischen Kontinents, weil sie dort bereits Familienagehörige oder Freunde haben, die ihnen bei einem Neuanfang helfen. Selbst wenn ihr Asylantrag abgelehnt wird, ist die Gefahr, in die Heimat abgeschoben zu werden, sehr gering. Man schätzt die Zahl derer, die heute auf diese Weise ohne Papiere in Britannien leben und zumeist für Landsleute illegal arbeiten, auf eine Million.