Ausland14. Januar 2022

Schulstreik gegen chaotisches Coronakrisen-Management

Frankreichs Gewerkschaften sind einig und Eltern solidarisch

von Ralf Klingsieck, Paris

In Frankreich hat am Donnerstag ein landesweiter Schulstreik stattgefunden, mit dem gegen das katastrophale Mißmanagement der Behörden angesichts der gegenwärtigen fünften Welle der Coronapandemie protestiert wird. Darüber sprach in Paris unser Korrespondent Ralf Klingsieck mit Odile Cordelier, Englisch-Lehrerin an einem Gymnasium in Dijon und Vorstandsmitglied der Lehrergewerkschaft SNES-FSU.

Wie ist die Beteiligung an diesem Streik und was macht ihn so besonders?

Drei Viertel der Lehrer an den Grundschulen und die Hälfte an den Mittelschulen und Gymnasien nehmen an dem Streik teil und etwa jede zweite Schule ist geschlossen. Dies ist der größte Schulstreik seit 20 Jahren und dabei haben wir endlich wieder einmal eine Einheitsfront aller Lehrergewerkschaften. Aber nicht nur die Lehrer und auch viele Schuldirektoren nehmen teil, sondern auch die größten Elternverbände haben sich solidarisch erklärt und selbst zahlreiche Schulinspektoren haben sich angeschlossen, weil sie mit uns übereinstimmen.

Es ist aber nicht nur ein Streik, sondern ein Tag der Mobilisierung. Selbst viele Lehrer, die heute nicht streiken, nehmen doch an den Demonstrationen teil, die in Paris und viele Städten des Landes stattfinden. Es handelt sich also nicht nur um einen Schulstreik, sondern um soziale Proteste, die über das Niveau der Schule hinausgehen. Das fürchtet die Regierung ganz besonders, und das hatten wir seit langem nicht mehr. In den zurückliegenden Jahren ist das nur vergleichbar mit den Protesten gegen die Rentenreform.

Worauf konzentriert sich die aktuelle Protestbewegung?

Die Besonderheit dieses Aktionstages ist, daß es nicht nur um die Unzufriedenheit unseres Berufstandes im Zusammenhang mit der gegenwärtigen Corona-Pandemie geht, sondern darüber hinaus um die unbefriedigende Lage des Schulsystems überhaupt. Da hat sich natürlich seit Ausbruch der Pandemie Anfang 2020 sehr viel angesammelt und im Laufe der Monate gesteigert. Die meisten Lehrer sowohl an den Vor- und Grundschulen als auch an den Mittelstufen und den allgemeinen oder berufsbildenden Gymnasien haben sich stark engagiert und ihr Bestes gegeben, um den Unterricht – in welcher Form auch immer – aufrecht zu erhalten und die Schüler zu unterstützen und vor Depressionen zu schützen. Das wurde von der Regierung und vor allem dem Bildungsminister nicht gebührend anerkannt und unterstützt.

Bildungsminister Jean-Michel Blanquer sagt: Man streikt nicht gegen ein Virus. Was erwidern Sie darauf?

Dies ist kein Streik gegen das Virus, sondern gegen die Art und Weise, wie im Bereich des Bildungswesens darauf reagiert wurde und wie man die Lehrer vor Ort unterstützt oder – treffender gesagt – alleinläßt. Aber es geht nicht nur um die Arbeitsbedingungen der Lehrer und der anderen Beschäftigten an den Schulen, sondern auch und vor allem um den Schutz der Schüler, die keine körperlichen und psychischen Schäden davontragen und möglichst wenig Unterrichtsstoff versäumen sollen.

Es ist empörend, daß wir vor dem Schulbeginn am 3. Januar, also nach dem Ende der Weihnachtsferien, über das epidemiologische Verhaltensprotokoll erst am Vorabend per Mail informiert wurden und daß die Regeln hinsichtlich der Tests und Atemschutzmasken sowie des Verhaltens bei Ansteckungs- und Kontaktfällen in der folgenden Woche noch dreimal geändert wurden. Am stärksten spitzt es sich dabei bei den Tests zu, denn was da jetzt vorgeschrieben wird, ist völlig lebensfremd und beim besten Willen nicht umsetzbar. Wir haben den Eindruck, daß da im Ministerium und an den Schulbehörden ständig nur improvisiert wird. Das ist unerträglich.

Können Sie zustimmen, wenn der Parlamentsabgeordnete und Nationalsekretär der PCF Fabien Roussel sagt, daß »der Minister das Chaos an den Schulen organisiert«?

Das ist natürlich sehr zugespitzt, aber durchaus zutreffend. Wie an den verschiedenen Schulen im Land mit der Epidemie und ihrer ständig wechselnden Zahl angesteckter oder erkrankter Schüler und Lehrer umgegangen wird, hängt stark vom Engagement der Verantwortlichen vor Ort ab. Vom Ministerium und den Schulbehörden der Departements und Regionen haben sie da keine große Hilfe zu erwarten, eher im Gegenteil. Vor allem mangelt es an Vorausschau und Vorbeugung. Die Regierung entscheidet allein, ohne beispielsweise die Lehrergewerkschaften und die Elternverbände zu konsultieren, deren Mitglieder die Lage am besten kennen und konkrete Vorstellungen haben, wie man damit am besten umgehen sollte. Doch darüber setzen sich die Politiker hinweg, und das schafft viel Frustration.

Wie kommt das konkret zum Ausdruck?

Dieses chaotische Mißmanagement treibt die Lehrer und die anderen Beschäftigten an den Schulen zur Verzweiflung und hinterläßt bei ihnen eine tiefe Niedergeschlagenheit. Das erfaßt aber auch schon die jüngsten Schüler, wenn sie erleben, wie ihre Eltern herumlaufen oder sich lange anstellen müssen, um die geforderten Tests machen zu lassen oder zu Hause selbst zu machen, soweit sie das nötige Material dafür überhaupt bekommen. Alles lastet auf den Schultern der Eltern und strapaziert ihren Geldbeutel, denn die Schulen sind schon rein materiell außerstande, die Schüler zu testen. Sie bekommen dafür vom Ministerium nicht nur kein Material oder Geld, sondern auch keine Atemschutzmasken für die Schüler. Bisher gab es nur ein paar Stoffmasken für die Lehrer. Ob die Schulen Masken für die Schüler bekommen, hängt von den Kommunen, Departements und Regionen ab, die für die Finanzierung der Grund- und Mittelschulen sowie der Gymnasien zuständig sind.

Was hat sich durch die Corona-Krise an den Schulen grundlegend und möglicherweise auf Dauer geändert?

Neu für uns ist, daß sich durch die Pandemie und ihre Auswirkungen auf das Schulsystem die psychische Gesundheit vieler Schüler verschlechtert hat. Darauf müssen wir uns einstellen, aber viele Lehrer sind darauf nur unzureichend vorbereitet. Immer öfter leiden Schüler unter Panikzuständen und Depressionen, oder sie verzweifeln angesichts des versäumten und kaum noch aufzuholenden Unterrichtsstoffs und brechen die Schule ab.

Diese Krise hat aber auch dazu geführt, daß viele Eltern eine ganz neue Sicht auf die Arbeit der Lehrer haben und würdigen, was sie leisten. Das berührt uns sehr, und so etwas vermissen wir seitens des Ministers.

Was würden Sie sich noch von ihm wünschen?

Die Schulbehörden haben von der Regierung in der Coronakrise keine zusätzlichen Mittel bekommen. Es wurde im Gegenteil weiter rationalisiert. So sind im vergangenen Dezember wieder 450 Stellen für Lehrer an Mittelschulen und Gymnasien gestrichen worden, mit Hinweis auf die demografisch sinkende Schülerzahl. Seit 2018 wurden so schon 7.500 Lehrerstellen liquidiert, statt die Zahl der Schüler pro Klasse zu senken und dadurch die Effizienz des Unterrichts zu verbessern. Eines der seit Jahren dringendsten Probleme, das sich unter den aktuellen Bedingungen ganz besonders zugespitzt hat, ist der Mangel an Vertretungslehrern, die bei der Erkrankung eines Lehrers einspringen und dafür sorgen können, daß der Unterricht weitergeht und die Schüler keinen Stoff versäumen. Heute ist das leider nur zu oft der Fall.

Wir fordern, daß die künftigen Lehrer nicht nur an der Universität Theorie studieren, sondern daß man sie anschließend ein Jahr praxisnah weiterbildet, mit Praktika an den Schulen und vor den Klassen. Heute werden sie ohne jegliche Praxiserfahrung in den Schulalltag geschickt und zudem anfangs meist in die sozialen Problemviertel, wo die Arbeit mit den Kindern und Jugendlichen besonders schwierig ist und aus denen sich die meisten Lehrer möglichst bald woandershin versetzen lassen. Da ist es nicht verwunderlich, wenn viele junge Kollegen schon nach wenigen Monaten das Handtuch werfen und den Lehrerberuf aufgeben. Statt auf den jungen Nachwuchs zu setzen und ihn zu unterstützen, greifen die Schulbehörden beim krisenbedingten Mangel an Lehrern heute lieber auf junge Rentner zurück. Das ist empörend und zeugt nicht gerade von Vertrauen in die Zukunft.