Ausland05. Oktober 2020

»Brexit«-Verhandlungen werden verlängert

Britisches Binnenmarkgesetz: EU sieht Austrittsabkommen verletzt und leitet Verfahren ein

Der britische Premierminister Boris Johnson favorisiert »nicht unbedingt« ein Handelsabkommen nach dem Muster Australiens, aber notfalls könne London nach dem Austritt aus der EU auch damit »mehr als gut leben«. Das sagte Johnson am Sonntag gegenüber dem britischen Sender BBC. Am Samstag hatten sich er und Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen per Videokonferenz auf eine Verlängerung der Verhandlungen geeinigt, die ursprünglich am 30. September abgeschlossen sein sollten. Gemeinsam erklärten sie nach dem Gespräch, sie hätten ihre Chefunterhändler angewiesen, »intensiv daran zu arbeiten«, die noch bestehenden erheblichen Lücken zu schließen.

Im Streit um das britische Binnenmarktgesetz hatte Brüssel am Donnerstag rechtliche Schritte gegen Britannien wegen Verletzung des EU-Austrittsvertrags eingeleitet. Eine entsprechende Mitteilung wurde von der Kommission an die britische Regierung versandt. Am Dienstag vergangener Woche hatte das Unterhaus mit einer deutlichen Mehrheit in dritter Lesung für das Binnenmarktgesetz gestimmt. Der Rechtsstreit zwischen Brüssel und London könnte am Ende vor dem Europäischen Gerichtshof ausgefochten werden.

Britannien habe mit dem Gesetzentwurf gegen das Prinzip des »guten Glaubens« verstoßen, hatte von der Leyen gesagt. Konkret geht es der EU um den Umgang mit Nordirland und die Frage staatlicher Subventionen und Förderungen. Das geplante Binnenmarktgesetz soll der britischen Regierung größere Freiheiten bei der Vergabe von Subventionen in Nordirland ermöglichen und nordirische Unternehmen von der Erstellung von Ausfuhrdokumenten bei Exporten auf die britische Hauptinsel befreien. Beides hält die EU für einen Verstoß gegen den von Britannien unterzeichneten EU-Austrittsvertrag, der Nordirland den Regeln des EU-Binnenmarktes auch im Fall eines »No-Deal-Brexit« unterwirft.

Die Auseinandersetzung hat erhebliche Bedeutung sowohl für britische Unionisten als auch die EU. Das konservative unionistische Lager möchte durch das Binnenmarktgesetz die Unteilbarkeit und Souveränität des Vereinigten Königreichs unterstreichen, die EU die Integrität ihres Macht- und Wirtschaftsblocks verteidigen.
Doch die Unionisten kommen durch die Auseinandersetzungen um das Binnenmarktgesetz auch zu Hause unter Druck. Die mit Autonomierechten ausgestatteten Regionen Wales und Schottland protestieren lautstark gegen den Entwurf. Sie sehen darin eine Beschneidung bestehender Rechte.

Die schottische Regierungschefin Nicola Sturgeon von der Schottischen Nationalpartei SNP nannte den Gesetzentwurf einen »Frontalangriff«. Tatsächlich würde das Binnenmarktgesetz der Zentralregierung nach Inkrafttreten erlauben, Standards für das gesamte Vereinigte Königreich festzulegen, auch wenn derartige Regulationsmechanismen bislang im Verantwortungsbereich der Behörden in Nordirland, Wales und Schottland lagen. Parteien wie die SNP befürchten, daß dadurch Sozialstandards auf das niedrigere, englische Niveau absinken könnten. Folgerichtig hat Sturgeon bereits über verschiedene Medien ausrichten lassen, daß der Kampf für die schottische Unabhängigkeit nun ein Kampf für die Souveränität des schottischen Parlaments sei.

Christian Bunke, Manchester

EU-Unterstützer vor dem Parlament in London (30.9.2020) (Foto: Frank Augstein/AP/dpa)