Ausland27. April 2024

Langer Kampf um gleiche Rechte

Seit 80 Jahren dürfen Französinnen wählen und gewählt werden. Doch auf komplette Gleichberechtigung warten sie immer noch

von Ralf Klingsieck, Paris

Am vergangenen Sonntag jährte sich zum 80. Mal der Tag, an dem General de Gaulle als Chef der provisorischen Regierung des erst zum Teil befreiten Frankreichs ein Dekret unterzeichnete, mit dem Frauen das aktive und passive Wahlrecht zuerkannt wurde. Unter den Rechtsvorschriften, die der gemeinsame Rat der antifaschistischen Résistance für das Nachkriegsfrankreich erließ, war dies eine der wichtigsten.

Die »Heimat der Menschenrechte« hatte auf diesem Gebiet aber auch einiges nachzuholen. Frankreich war weltweit erst das 59. Land, das den Frauen das Wahlrecht gewährte. In Europa hatte Finnland 1906 den Anfang gemacht, 1918 gefolgt durch Deutschland. Die USA gingen diesen Schritt 1920.

Zum ersten Mal konnten die französischen Frauen bei der Kommunalwahl am 29. April und 13. Mai 1945 an die Wahlurne treten oder kandidieren. Die erste Parlamentswahl fand dann am 21. Oktober 1945 statt und die dabei gewählte Gesetzgebende Versammlung verabschiedete 1946 eine neue Verfassung, in der es hieß: »Das Gesetz garantiert den Frauen auf allen Gebieten gleiche Rechte mit denen der Männer.« Das war das erfolgreiche Ende eines Kampfes, der eineinhalb Jahrhunderte gedauert hatte.

Zu den ersten Umwälzungen der Französischen Revolution vom 14. Juli 1789 gehörte die bereits im August verabschiedete Deklaration der Menschenrechte, unter denen allerdings die Rechtsgleichheit für Frauen noch nicht enthalten war. Das Wahlrecht blieb den »aktiven Bürgern« vorbehalten, während Frauen, Dienstboten und Arme als »passive Bürger« ausdrücklich ausgeschlossen blieben. So legte es die Gesetzgebende Versammlung am 22. Dezember 1789 bei der Verabschiedung des Wahlgesetzes ausdrücklich fest.

Nur eine kleine Gruppe von Abgeordneten unter Führung des Marquis Condorcet wandte sich dagegen und prangerte diese Diskriminierung als »dem Geist der Revolution fremd« an.

In diesem Sinne haben revolutionär gesinnte Französinnen, angeführt durch die Schriftstellerin Olympe de Gouges, eine Deklaration der Rechte der Frauen und Bürgerinnen ausgearbeitet und 1791 veröffentlicht. Schon hier wurden gleiche Rechte für Frauen wie für Männer auf allen Gebieten gefordert. »Wenn Frauen gleichberechtigt aufs Schafott treten dürfen, um unter der Guillotine das Leben zu lassen«, sagte Olympe de Gouges, »warum sollen sie dann nicht auch auf der Tribüne des Parlaments ihre Stimme erheben?«

Doch damit konnten sich die Frauenrechtlerinnen während der Revolution noch nicht durchsetzen. Das nachfolgende Regime Napoleon Bonapartes schrieb die untergeordnete Rolle der Frau im Code Napoleon fest, der nicht nur für Frankreich, sondern auch für viele Länder Europas zur Richtschnur ihres Rechtssystems werden sollte. So wurde die Diskriminierung der Frauen das ganze 19. Jahrhundert über nicht nur praktiziert, sondern regelrecht zementiert. Eine kurzzeitige Ausnahme bildeten die 100 Tage der Pariser Kommune von März bis Mai 1871, die zu einem großen Teil durch Frauen getragen wurde und die erstmals deren Rolle in der Gesellschaft anerkannte. Doch ihre Gleichberechtigung blieb weiterhin eine Utopie.

Erst 1909 entstand eine Organisation für das Frauenwahlrecht, die Union française pour le suffrage des femmes (UFSF), in der allerdings fast nur linksbürgerliche und intellektuelle Frauen vertreten waren und die sich auf die Forderung nach dem aktiven und passiven Wahlrecht bei Kommunalwahlen beschränkte.

Einen ernsthaften Aufschwung nahm die Bewegung für gleiche Rechte der Frauen am Ende des Ersten Weltkrieges. Dafür sprach die große Rolle der Frauen, die während des Krieges die Männer in Industrie und Gewerbe sowie auf fast allen Gebieten des gesellschaftlichen Lebens ersetzt und dabei ihre Fähigkeiten und Tatkraft unter Beweis gestellt hatten. Doch diese Argumente wurden von den Männern, die weiterhin allein an den Hebeln der Macht standen, weggewischt und die meisten Frauen mußten wieder an den häuslichen Herd zurückkehren.

Dabei war die Forderung nach dem Frauenwahlrecht längst in der Gesellschaft verbreitet. Davon zeugte beispielsweise eine Umfrage der großen Tageszeitung »Le Journal« vom April 1914, also noch Monate vor Beginn des Krieges. Sie fragte ihre Leserinnen: »Wollen Sie eines Tages wählen dürfen?« Unter den mehr als eine halbe Million schriftlichen Antworten votierten 505.972 Frauen mit »Ja« und nur 114 mit »Nein«.

In den 1920er Jahren entstanden nach dem Beispiel Britanniens und der USA auch in Frankreich feministische Organisationen, die für gleiche Rechte kämpften und für die dabei das Wahlrecht an der Spitze stand. Sie erreichten zumindest, daß dieses Thema nicht mehr aus der öffentlichen Debatte verschwand. Doch die Zeit war noch nicht reif für grundlegende Veränderungen, und auch die linke Volksfront 1936 konnte in den wenigen Monaten, in denen sie die politischen Macht ausübte, auf diesem Gebiet keinen Durchbruch erreichen. Aber immerhin zählte die Regierung des Sozialisten Léon Blum drei Frauen, wenn auch nur mit dem Rang von Unter-Staatssekretären.

Das Vichy-Regime der faschistischen Kollaborateure unter Marschall Pétain brachte dann sogar noch einmal einen empfindlichen Rückschritt mit seiner ganz auf Kirche und Familie, Haushalt und Kinder fixierten Rolle der französischen Frau. Folgerichtig gehörten dann die gleichen Rechte für Frauen zu den wichtigsten Prinzipien, auf die sich die breitgefächerten Bewegungen der Résistance, von den Kommunisten und Sozialisten über die verschiedenen bürgerlichen Parteien bis zu den Royalisten für das Nachkriegsfrankreich geeinigt hatten. Die einzige Ausnahme bildeten die linksliberalen Radikalsozialisten, die das Wahlrecht für Frauen ablehnten, weil sie überzeugt waren, daß die meisten Frauen noch zu stark unter dem Einfluß der Kirche stünden und zugunsten der Reaktion wählen würden.

Bei der ersten Nachkriegs-Parlamentswahl vom Oktober 1945 zogen neben 553 männlichen Abgeordneten erstmals auch 33 Frauen, davon 17 Frauen mit dem Mandat der Französischen Kommunistischen Partei (PCF), in die Gesetzgebende Versammlung ein. Der Frauenanteil erhöhte sich mit den Jahren immer mehr, und heute sind von den 577 Abgeordneten der Nationalversammlung 215 Frauen.

Doch das aktive und passive Wahlrecht löste längst noch nicht das Problem der Benachteiligung der französischen Frauen. Es erforderte noch erbitterte Auseinandersetzungen im Parlament und in der Öffentlichkeit, um schrittweise die nach wie vor bestehenden Ungleichheiten zu beseitigen.

So wurde erst 1965 ein Gesetz erlassen, nach dem Frauen auch ohne Zustimmung ihres Mannes einen Beruf ausüben, ihr eigenes Vermögen verwalten, ein Konto eröffnen und Schecks ausstellen dürfen. Erst seit 1967 ist Schwangerschaftsverhütung gesetzlich erlaubt und Schwangerschaftsabbruch seit 1975.

Völlig durchgesetzt ist die Gleichberechtigung immer noch nicht. Zwar gibt es inzwischen Gesetze und Selbstverpflichtungen über die paritätische Besetzung von Führungsposten in Politik und Wirtschaft, aber immer noch verdienen Frauen bei gleicher Arbeitszeit und Qualifizierung im Schnitt vier Prozent weniger als Männer, obwohl eigentlich per Gesetz seit 1972 gleiche Löhne vorgeschrieben sind.