Hast du Worte?
Radioaktive Strahlung ist unsichtbar, man kann sie weder hören oder riechen, noch schmecken oder fühlen. Sie ist so unfaßbar wie die Zeit, die sie überdauert: Das Isotop Plutonium-239 zum Beispiel, das in vielen Kernreaktoren produziert wird, strahlt mehr als 24.000 Jahre, bis es den Punkt erreicht, an dem erst die Hälfte seiner Atomkerne zerfallen ist. Plutonium-242 hat sogar eine Halbwertszeit von 375.000 Jahren. Jod-129 eine von 16 Millionen Jahren.
Alle drei Stoffe sind im Atommüll enthalten, den Frankreich in seinem 130 Kilometer von der luxemburgischen Grenze entfernten »Endlager« Bure für mindestens 100.000 Jahre einlagern will. Alle drei Stoffe schädigen Mensch und Tier. Nach heutigem Stand sind in den Tonschichten unter dem Dörfchen in Lothringen Kapazitäten für 130.000 Kubikmeter mittel- und weitere 8.000 Kubikmeter hochradioaktiven Abfalls vorhanden. Das entspricht zwar lediglich drei Prozent der Gesamtmenge des französischen Atommülls, aber darin wären 99 Prozent seiner gesamten Radioaktivität gebündelt.
Neben Eiszeiten, Erdbeben und Vulkanausbrüchen gibt es bei dem Versuch, die künftigen Generationen mindestens 100.000 Jahre lang vor den radioaktiven Altlasten zu schützen, einen weiteren großen Unsicherheitsfaktor: den Menschen. Denn damit nicht irgendwann an der Stelle eines »Endlagers« nach Bodenschätzen gebohrt wird, muß das Wissen um die Atommülldeponie erhalten bleiben. Wie das geschehen soll, ist aber völlig unklar. Auf bewachte Anlagen, Warnschilder und schriftliche Aufzeichnungen kann sich niemand verlassen. Denn wer versteht in ferner Zukunft noch irgendwelche, dann antiken Sicherheitshinweise?
Das wird klar, wenn man in die Vergangenheit blickt: Vor 100.000 Jahren machte sich Homo sapiens von Afrika aus Richtung Norden und Osten auf. Dann dauerte es volle 90.000 Jahre, bis der Mensch in der Jungsteinzeit anfing, vom Jäger und Sammler zum seßhaften Bauern zu werden. Die Anfänge der ersten Hochkultur des Menschen, die von den Sumerern im südlichen Mesopotamien errichtet wurde, liegen fast 6.000 Jahre zurück. Vor 5.000 Jahren bauten die Ägypter die ersten Pyramiden, Stonehenge wurde vor 4.800 Jahren errichtet.
Vor allem aber ist die Halbwertszeit der Sprache kurz im Vergleich zu der radioaktiven Abfalls: Zwischen 1030 und 1050 unserer Zeitrechnung wurde das für Laien heute kaum zu entziffernde Evangeliar von Echternach geschaffen. Das Werk der ottonischen Buchmalerei ist also noch keine tausend Jahre alt. Die ältesten schriftlichen Zeugnisse der Menschheit, keine 5.000 Jahre alt, sind allein Experten verständlich. Binnen 8.000 Jahren, schätzen Fachleute, tauscht sich der Wortschatz einer Sprache komplett aus.
Vor rund 2.500 Jahren ließ auch der persische König Dareios Inschriften in Stein hauen, um Feinde abzuschrecken. Er verfluchte sie in drei verschiedenen Dialekten, um sicherzugehen, daß jeder Eindringling die Warnung verstehe. Allerdings löschten Wind und Wetter viele der Inschriften bald aus. Und auch die verbliebenen Warnungen hatten keinen Effekt, wohl auch, weil die Eindringlinge sie nicht lesen konnten.
Der Vorschlag, eine Warnung zu finden, die mindestens 10.000 Jahre überdauert, kommt aus der Schweiz: Dort empfiehlt eine offizielle Studie, ein noch zu errichtendes »Endlager« mit Millionen Tonscherben zu markieren, die zu Symbolen wie Totenschädeln angeordnet werden. Aber wer kann schon garantieren, daß ein Totenkopf schon von der nächsten Generation nicht mehr als ultimative Warnung vor dem Tod verstanden wird?