Zugespitzte Lage in Brasilien
Proteste gegen Präsident Bolsonaro. Soziale Folgen der Coronakrise verschärfen sich
In Brasilien nimmt die Wut vieler Bürger auf Präsident Jair Bolsonaro weiter zu. Am vergangenen Freitag, der von der Arbeiterpartei, den Gewerkschaften und anderen sozialen Organisationen zum »nationalen Mobilisierungstag« erklärt worden war, protestierten Menschen in 20 Bundesstaaten unter dem Motto »Fora Bolsonaro« (Weg mit Bolsonaro) gegen den Staatschef. Wie der Nachrichtensender Telesur berichtete, richteten sich symbolische Aktionen in den größeren Städten des Landes gegen dessen autoritäre Regierungspolitik in der bislang schwersten Gesundheits- und Wirtschaftskrise des Landes.
Neben Protesten in den »sozialen Netzwerken« waren bei einem lautstarken »Cacerolazo« vielerorts Trillerpfeifen und Trompeten zu hören. Ganze Familien gingen auf ihre Balkone oder ans Fenster, schlugen auf Töpfe und Pfannen und skandierten dazu »Fora Bolsonaro«.
Zu Protest haben die Brasilianer allen Grund. Bolsonaro hält auch nach seiner eigenen Covid-19-Ansteckung unbeirrt daran fest, daß die Krankheit eine kleine Grippe sei, die für die meisten Menschen keine ernsthafte Bedrohung darstelle. Er preist wie sein Vorbild Donald Trump das Malariamedikament »Hydroxychloroquin«, vor dem Mediziner warnen, als Wundermittel an und sieht sich bestätigt in der Auffassung, daß Brasilien auf einem »guten Weg« sei.
Dabei gerät die Infektionswelle in dem größten und bevölkerungsreichsten Land Südamerikas immer mehr außer Kontrolle. Am Samstag meldete das Gesundheitsministerium 1.839.850 nachweislich mit dem Virus infizierte Personen. Die Zahl der registrierten Todesfälle nach einer Ansteckung war bis zum Wochenende bereits auf 71.469 emporgeschnellt und die Menge der täglichen Neuinfektionen steigt ständig an. Da nur wenige Tests durchgeführt werden, fürchten Gesundheitsexperten, daß die tatsächlichen Zahlen noch deutlich höher liegen. Doch statt zu versuchen, die explosionsartige Ausbreitung der Infektionen aufzuhalten, verschärfen der Präsident und seine Regierung die Krise.
So kündigte Wirtschaftsminister Paulo Guedes – ein rechtskonservativer Banker und Ökonom, der während der Pinochet-Diktatur an der Universidad de Chile unterrichtete – in der vergangenen Woche an, daß er in den nächsten 90 Tagen Details über »drei oder vier« weitere Privatisierungen bekanntgeben werde. Zwar verriet Guedes nicht, welche staatlichen Unternehmen in den kommenden Monaten verkauft werden sollen, doch hat er in diesem Zusammenhang bislang vor allem die Post, das Energieunternehmen »Eletrobrás« und den Finanzdienstleister »Caixa Econômica Federal«, der auch für die Auszahlung von Mitteln aus Sozialhilfeprogrammen zuständig ist, genannt.
Luis Miguel, Professor für Politikwissenschaft an der Universität von Brasilia, sieht in der Ankündigung zum jetzigen Zeitpunkt eine Strategie der Regierung, die Maßnahmen in Zeiten der Pandemie nahezu unbemerkt von der Öffentlichkeit durchzuziehen, um die Mobilisierung und Gegenwehr der Zivilgesellschaft zu erschweren. Das Privatisierungspaket diene vor allem den Interessen des Großkapitals und werde sich durch schlechtere Leistungen und höhere Preise negativ auf die Versorgung der Bevölkerung auswirken, meint Luis Miguel.
Für viele Brasilianer ist mittlerweile schon die Versorgung mit Lebensmitteln nicht mehr garantiert. In einem am Freitag veröffentlichten Bericht bezeichnete die globale Entwicklungsorganisation »Oxfam« Brasilien als ein Land, in dem mit extrem hohen Zahlen Hungernder zu rechnen sei. »Die Nahrungsmittelkrise wird verschärft durch Sparmaßnahmen, fehlenden Anreiz zur Nahrungsmittelproduktion und einer Politik, die Marktspekulationen bei Nahrungsmittelpreisen ermöglicht«, heißt es in dem Bericht. Mächtige Agrarkonzerne und Supermarktketten, die den Sektor dominieren, könnten ungehindert Preise und Bedingungen des Lebensmittelhandels diktieren.
Auch durch andere Maßnahmen gießt Bolsonaros Rechtsregierung Öl ins Feuer. Am Donnerstag prangerte der UNO-Sonderberichterstatter Balakrishnan Rajagopal an, daß im Bundesstaat São Paulo inmitten der Pandemie weitere 2.000 Menschen aus ihren Wohnungen vertrieben wurden. Rajagopal wies darauf hin, daß dadurch die Infektionsgefahr erheblich verstärkt wurde. Ungeachtet aller Warnungen hatte Bolsonaro vor einiger Zeit sein Veto gegen einen Gesetzentwurf zur Aussetzung von Zwangsräumungen eingelegt.
Nach Einschätzung von Experten sind rund 13 Millionen Bewohner von Favelas der Pandemie ohne Ärzte und sauberes Wasser hilflos ausgeliefert. Um diese Situation angesichts der Covid-19-Pandemie nicht weiter zu verschärfen, müßten die brasilianischen Behörden Zwangsräumungen und -umsiedlungen jetzt komplett untersagen, forderte der UNO-Berichterstatter.
Der Appell der UNO dürfte bei Bolsonaro und seinen Anhängern jedoch auf taube Ohren stoßen. Jeder Protest wird in der Coronakrise noch stärker unterdrückt als zuvor. Die Onlinezeitung »Brasil de Fato« veröffentlichte am Samstag eine Statistik der NGO »Foro Brasileño de Seguridad Pública« (FBSP), laut der im Bundesstaat São Paulo im April und Mai jeweils mehr Menschen bei Einsätzen der Militärpolizei getötet worden waren als im selben Zeitraum in den vergangenen 14 Jahren. Auch in den Staaten Ceará und Rio de Janeiro ist die Zahl der Todesopfer bei Polizeiaktionen im April und Mai im Vergleich zu den Vorjahren weiter angestiegen.
Volker Hermsdorf
Auf dem Platz vor dem Parlament in der Hauptstadt Brasília formten Protestierende am Samstag aus weißen Tüchern die Aufschrift »Amtsenthebung jetzt« Foto: Sergio LIMA/AFP)