Ausland06. Oktober 2023

»Weder Opfer noch Täter«

Perus Putschpräsidentin nach Massakern unter Druck

von Volker Hermsdorf

Perus De-facto-Staatschefin Dina Boluarte hat erneut ihr wahres Gesicht gezeigt. Am 15. September hat sie vor der Staatsanwaltschaft jede Aussage zum Tod von 49 Demonstranten während der Proteste nach ihrem Putsch gegen den gewählten Präsidenten Pedro Castillo vom 7. Dezember 2022 verweigert. Während Menschenrechtsgruppen und Angehörige der Opfer Boluarte beschuldigen, für 49 der 67 Todesfälle durch Polizei- und Militäreinsätze mitverantwortlich zu sein, behauptete ihr Anwalt Joseph Campos, es habe »weder Opfer noch Täter« gegeben.

»Wir haben beschlossen, auf eine weitere Teilnahme zu verzichten«, erklärte Campos, nachdem seine Mandantin eine Stunde lang zu allen Fragen der Ermittler geschwiegen habe, berichtete die Tageszeitung »La República«. Gegen Boluarte und ihren Premierminister Alberto Otárola wird wegen des Verdachts auf Völkermord, schwere Tötung und schwere Körperverletzung ermittelt.

»Die Haltung von Frau Boluarte ist für die Ermittlungen hinderlich. Sie hat ihre Verachtung für die bei den sozialen Protesten Getöteten und ihre Angehörigen gezeigt, und vor allem verstößt sie gegen ein internationales Prinzip, nämlich das Recht der Opfer auf die Wahrheit in einer Untersuchung«, erklärte Anwalt Juan José Quispe, der die Familien der Opfer vertritt, gegenüber der Zeitung.

Laut dem Bericht hatten die Staatsanwaltschaft und die Verteidigung der Familien 47 Fragen zu den Einsätzen während des Ausnahmezustands vom Dezember 2022 bis Januar 2023 vorbereitet, deren Beantwortung Frau Boluarte verweigerte. Ihr Anwalt habe sogar eine Protokollierung der einzelnen Punkte verhindern wollen. Die Staatsanwaltschaft lehnte den Vorstoß hinsichtlich der Eingaben der Opferanwälte ab, verzichtete dann jedoch selbst auf eine weitere Befragung. »Es wäre wichtig gewesen, daß die Staatsanwaltschaft ebenfalls ihre Fragen zu Protokoll gibt«, bedauerte Juan José Quispe.

Ein späteres Verhör von Alberto Otárola verlief ähnlich ergebnislos. Als Verteidigungsminister der Übergangsregierung Boluarte war Otárola unter anderem für das Massaker von Ayacucho und nach seiner Beförderung zum Premierminister für das Massaker von Juliaca verantwortlich.

Carlos Rivera Paz, ein weiterer Anwalt der Opferfamilien, warf den Verteidigern der Beschuldigten vor, eine Verschleierungsstrategie zu verfolgen, indem sie behaupteten, daß ihre Mandanten über die Vorgänge weder informiert noch darin verwickelt waren. Rivera Paz verwies darauf, daß der Chef des Oberkommandos der Streitkräfte, Jesús Gómez de la Torre, im Widerspruch dazu über ein Treffen »vor der Intervention in Ayacucho« berichtet und ausgesagt hatte, »daß die Präsidentin über die Ereignisse (in Ayacucho) perfekt informiert war«.

Die Aufklärung derartiger Widersprüche könnte für Boluarte und Otárola auch international unangenehm werden. Erst Anfang Mai hatte die Interamerikanische Menschenrechtskommission (IACHR) »schwerwiegende Fälle einer wahllosen und tödlichen Gewaltanwendung« durch Einsatzkräfte dokumentiert. In der südperuanischen Stadt Juliaca war es laut einem Bericht der IACHR zur »exzessiven und willkürlichen Gewaltanwendung durch staatliche Stellen« gekommen, die zu »schweren Menschenrechtsverletzungen gegenüber Teilnehmern der Proteste sowie unbeteiligten Dritten« geführt habe. In der ebenfalls im Süden des Landes gelegenen Region Ayacucho müsse das Vorgehen der Einsatzkräfte »als Massaker eingestuft werden«. Da die Gewalttaten von staatlichen Akteuren begangen wurden, könne es sich um »außergerichtliche Hinrichtungen« handeln.

Der Auftritt von Dina Boluarte dürfte im Land die Ablehnung gegenüber der Putschpräsidentin verstärken. Laut der jüngsten Umfrage des Instituts für Peruanische Studien (IEP) lehnen 82 Prozent der Befragten Boluarte und ihr Regime ab. 86 Prozent warfen dem von der Rechten dominierten Kongreß vor, gegen die Gewaltenteilung zu verstoßen und die Unabhängigkeit der Justiz zu mißachten.

Erst vor drei Wochen hatte sich auch Volker Türk, der UNO-Hochkommissar für Menschenrechte, »besorgt« über Einschränkungen der Unabhängigkeit von verfassungsmäßigen und autonomen Organen in Peru geäußert.