Ausland23. August 2025

Deindustrialisierung und Gegenkonversion

Kriegswirtschaft als alternatives Geschäftsmodell

von Ulf Immelt

Die Auswirkungen von Krieg und Krise werden auch auf dem Arbeitsmarkt immer sichtbarer. Steigende Arbeitslosenzahlen sind das Ergebnis eines massiven Stellenabbaus in der Industrie. Gleichzeitig schielt die Kapitalseite auf die riesigen Profite, die neuerdings mit der Rüstungsproduktion möglich sind. Unter dem Druck von Transformation, Krise und Deindustrialisierung wird der Übergang zur Kriegswirtschaft zu einem neuen, lukrativen Geschäftsfeld.

Steigende Arbeitslosenzahlen

Die Arbeitslosigkeit in Deutschland ist im dritten Jahr in Folge gestiegen. Nachdem die Quote seit 2017 im Jahresdurchschnitt konstant unter 6 Prozent lag, hat sie im vergangenen Jahr erstmals wieder diese Marke überschritten. Im Januar und Februar dieses Jahres ist sie auf 6,4 Prozent gestiegen.

Besonders in der Industrie bauen zahlreiche Unternehmen Stellen ab. Allein bei ZF, Continental, Thyssenkrupp Steel und Volkswagen stehen in den kommenden Jahren rund 70.000 Stellen auf der Kippe. Schaeffler, Porsche, Bosch und Ford planen ebenfalls, tausende Stellen zu streichen. »Da gehen im Moment mehr als 10.000 Jobs pro Monat verloren«, beschrieb Enzo Weber, Wissenschaftler am Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) in Nürnberg, die Entwicklung in einem sehenswerten Bericht der ARD-Finanzredaktion.

Zahlen des Statistischen Bundesamts machen die Dimension der Arbeitsplatzvernichtung der letzten Jahre deutlich. Demnach ist die Zahl der Beschäftigten in der Industrie von 7,53 Millionen 2019 um 330.000 auf rund 7,22 Millionen 2024 gesunken. Und der Stellenabbau schreitet immer schneller voran. Statistiken der Bundesagentur für Arbeit zeigen, daß in der Industrie im Dezember 2024 im Jahresvergleich 105.000 Arbeitsplätze abgebaut wurden. Im Januar 2025 waren es bereits 121.000 und im Februar 125.000.

Prognosen, die auch durch eine im Februar veröffentlichte Studie der Unternehmensberatung Ernst & Young bestätigt werden. Demnach wurden allein 2024 rund 70.000 Industriearbeitsplätze abgebaut. Weitere 100.000 dürften im laufenden Jahr hinzukommen. Neben den Elektrotechnik- und Maschinenbau-Unternehmen ist vor allem die Automobil- und Zulieferindustrie betroffen. Allein bei den Autobauern wird sich der Stellenabbau im laufenden Jahr auf rund 40.000 Stellen verdoppeln, so die Prognose der Studie. Und laut einer Umfrage unter Betriebsräten des IG-Metall-Bezirks Mitte droht allein in der Metall- und Elektroindustrie der Bundesländer Hessen, Rheinland-Pfalz, Saarland und Thüringen der Verlust von mindestens 14.100 Arbeitsplätzen.

Anhaltender Trend

Diese Tendenz bestätigt ausgerechnet das Institut der deutschen Wirtschaft (IW) in Köln. Demnach planen 38 Prozent der Unternehmen – über alle Wirtschaftszweige hinweg –, Personal abzubauen. Nur 17 Prozent wollen perspektivisch mehr Mitarbeiter einstellen. Noch gravierender ist der Arbeitsplatzabbau in der Industrie. Hier steht bei 44 Prozent der befragten Unternehmen Stellenabbau auf der Agenda. Gerade einmal 14 Prozent planen Neueinstellungen.

»Damit dürfte sich der bereits seit geraumer Zeit sichtbare Beschäftigungsabbau im deutschen Verarbeitenden Gewerbe auch im neuen Jahr fortsetzen«, prognostiziert das IW.

Als Ursache für diese Deindustrialisierungswelle müssen neben dem Wirtschaftskrieg und den teuren Energiekosten infolge der Sanktionspolitik gravierende Veränderungen in der Produktionsweise, die als Transformation der Wirtschaft bezeichnet werden, herhalten. Hinter diesem vermeintlichen Sachzwang verbergen sich Prozesse wie Digitalisierung, Dekarbonisierung und zunehmende Internationalisierung von Produktions- und Wertschöpfungsketten.

In der Folge verlieren alte Industrien an Bedeutung oder verschwinden ganz. Gleichzeitig entstehen mit Digitalkonzernen wie Google, Facebook oder Amazon neue Schlüsselbranchen. Daten werden zu einer ökonomisch immer bedeutenderen Ware und sind längst Schmiermittel kapitalistischer Akkumulation. Um mit dieser Entwicklung Schritt zu halten, stellen sich auch die heimischen Konzerne wie Continental, Bosch, Opel oder VW neu auf. Sie werden selbst zu Digitalkonzernen. Investitionen fließen verstärkt in die Entwicklungsabteilungen und den IT-Bereich, während in den Produktionshallen massiv Stellen abgebaut werden. Der Umstieg auf Elektromobilität und Wasserstofftechnologien verstärkt diesen Trend.

Neuaufteilung der Märkte

Mit den Veränderungen in der Produktionsweise entstehen neue Märkte, und die Konkurrenz bei deren Neuaufteilung nimmt zu – bis hin zu offen militärischen Auseinandersetzungen. Es verwundert daher nicht, daß staatliche Investitionsprogramme von den deutschen Konzernen nicht nur begrüßt, sondern offensiv eingefordert werden. Denn eine gut ausgebaute, mit öffentlichen Mitteln finanzierte Infrastruktur und Grundlagenforschung sowie ein hochgerüsteter Militärapparat sind entscheidende Wettbewerbsvorteile gegenüber der Konkurrenz aus Übersee.

Infolge der beschriebenen Veränderungen werden auch die Arbeitsbedingungen der Lohnabhängigen neu ausgehandelt. Unter günstigeren Kräfteverhältnissen zwischen Kapital und Arbeit könnte der technische Fortschritt dazu genutzt werden, Arbeitszeit zu verkürzen und Arbeit zu humanisieren. Unter kapitalistischen Vorzeichen besteht jedoch die Gefahr – so, wie wir es gerade erleben –, daß zahlreiche Arbeitsplätze vernichtet werden.

Das IAB kommt zu dem Ergebnis, daß inzwischen jeder vierte sozialversicherungspflichtige Arbeitsplatz in Deutschland durch einen Computer oder eine computergesteuerte Maschine ersetzt werden könnte. In absoluten Zahlen sind 7,9 Millionen Lohnabhängige von dieser Entwicklung betroffen. Und die Substituierbarkeitspotenziale, so der wissenschaftliche Fachbegriff, haben in relativ kurzer Zeit massiv zugenommen. Noch 2013 betrug das Substituierbarkeitspotenzial 4,4 Millionen sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze.

In der Konsequenz wird es zu großen Verschiebungen innerhalb der Branchen- und Berufsstrukturen kommen. Dies kann Folgen für die Qualität der Arbeitsplätze haben. Der Anteil tarifgebundener und mitbestimmter Arbeitsplätze kann zurückgehen. An ihre Stelle treten prekäre Arbeitsverhältnisse. Denn entgegen der landläufigen Meinung, daß vor allem Helfertätigkeiten infolge der Digitalisierung wegfallen, geht die Wissenschaft davon aus, daß im besonderen Maße Facharbeiter von dieser Entwicklung betroffen sein werden.

Das festgestellte hohe Substituierbarkeitspotenzial bei Facharbeitern, insbesondere im produzierenden Gewerbe, birgt die Gefahr, daß die stärksten Bataillone gewerkschaftlicher Gegenmacht im hohen Maße wegrationalisiert werden. Eine solche Schwächung würde die Kräfteverhältnisse zwischen Kapital und Arbeit im Betrieb und in der Gesellschaft weiter zugunsten des Kapitals verschieben.

Aufrüstung als neues Geschäftsfeld

Während die Gewerkschaften noch für den Erhalt industrieller Arbeitsplätze und Standortgarantien kämpfen, ist die Kapitalseite längst einen Schritt weiter und hat Aufrüstung und Übergang zur Kriegswirtschaft als ein alternatives Geschäftsmodell entdeckt. Dies scheint zumindest für bestimmte Kapitalfraktionen eine reale Option zu sein. Wie sonst soll man die jüngsten Äußerungen aus dem IW interpretieren? »Nur von Diskussionen über erhöhte Verteidigungsausgaben haben die Hersteller nicht viel. Jetzt müssen die Rüstungsausgaben schnell und deutlich erhöht werden. Die Industrie benötigt langfristige Perspektiven, die mit Bestellungen unterlegt sind«, so Klaus-Heiner Röhl. Er ist Rüstungsexperte am IW und bezieht sich auf das mehrere hundert Milliarden Euro schwere Aufrüstungsprogramm, das noch der alte Bundestag beschlossen hat.

Es sei mehr Tempo bei der Beschaffung notwendig, aber auch bei Strukturreformen zur Vergrößerung der Bundeswehr. Außerdem müßten die Kapazitäten ausgeweitet werden durch Einbeziehung bislang ziviler Industriebetriebe oder Neuerrichtung von Produktionsstätten, so Röhl im Frühjahr dieses Jahres. Denn Rüstung bestehe schon lange nicht mehr nur aus Panzern und Kampfjets.

Eine vergrößerte Bundeswehr benötige auch mehr Lkws und leicht gepanzerte Geländefahrzeuge, die die Autoindustrie zügig liefern könnte. Insbesondere der Branchenführer Rheinmetall habe aufgrund vieler internationaler Zukäufe und einer unterausgelasteten Automobilzuliefersparte beste Möglichkeiten, die Produktion noch weiter zu steigern, meint Röhl.

Auch der Bundesverband der Deutschen Sicherheits- und Verteidigungsindustrie sieht großes Potenzial in der Autoindustrie. Aktuell böten freiwerdende Ressourcen in der Automobil- und Automobilzulieferindustrie in Deutschland besondere Chancen für einen schnellen Aufbau von Rüstungskapazitäten, insbesondere im Bereich größerer Serien, so deren Hauptgeschäftsführer Hans Christoph Atzpodien. »Anstatt einen volkswirtschaftlichen Schaden durch den Abschwung der Auto-Konjunktur zu beklagen, sollten wir versuchen, Produktionseinrichtungen und vor allem Fachkräfte aus dem Automobilsektor möglichst verträglich in den Defence-Bereich zu überführen«, wirbt Atzpodien bei den Gewerkschaften für die anstehende Kriegswirtschaft.

Gegenkonversion konkret

So wurde beispielsweise Beschäftigte aus dem Continental-Bremsenwerk in Gifhorn von Rheinmetall ein Wechsel in eine Munitionsfabrik angeboten. Auch Hensoldt schielt auf Beschäftigte von Continental und Bosch, deren Arbeitsplätze von Rationalisierung bedroht sind. »Wir profitieren von den Schwierigkeiten der Autoindustrie. Man könnte gewisse Komponenten per Auftragsfertigung von bisher auf die Autobranche spezialisierten Firmen herstellen lassen«, so Oliver Dörre, der Vorstandsvorsitzende des in Bayern ansässigen Rüstungsunternehmens.

Und auch das Management des Renk-Konzerns freut sich, daß Ingenieure künftig Getriebe für Militär- statt für Zivilfahrzeuge konstruieren werden. Und der deutsch-französische Panzerbauer KNDS hatte zuletzt das vor dem Aus stehende Werk des Bahntechnik-Konzerns Alstom in Görlitz übernommen. Dort will er gut die Hälfte der 700 Mitarbeiter weiterbeschäftigen.

Für wie viele der knapp acht Millionen in der Industrie beschäftigten Kolleginnen und Kollegen ein Wechsel in ein Rüstungsunternehmen eine reale Perspektive darstellt, bleibt jedoch schon aufgrund der Dimensionen abzuwarten. Aktuell sind nach Zahlen des IW bei den Endherstellern wie Rheinmetall, KNDS, TKMS oder Diehl circa 60.000 Menschen an deutschen Standorten beschäftigt. Einschließlich der Zulieferer kommt das Institut auf rund 150.000 Beschäftigte in der Branche.

Wachstumspotenzial gibt es laut den sogenannten Rüstungsexperten darüber hinaus bei Unternehmen, die zu künstlicher Intelligenz und elektronischer Kriegsführung forschen. »Es gibt einige kleinere Unternehmen, wie zum Beispiel Helsing aus München, die im Bereich der Cybersicherheit und der elektronischen Kriegsführung auch immer stärker gefragt sind«, argumentierte Aylin Matlé, die für die Deutsche Gesellschaft für Auswärtige Politik zu »Sicherheit und Verteidigung« forscht.

Das Kieler Institut für Weltwirtschaft geht davon aus, daß das Bruttoinlandsprodukt (BIP) in der Europäischen Union um 0,9 bis 1,5 Prozent im Jahr steigen könnte. Dafür müßten die EU-Staaten ihre Militärausgaben vom »NATO-Ziel« von 2 Prozent auf 3,5 Prozent des BIP anheben und von überwiegend US-amerikanischen auf heimische Hightech-Waffen umsteigen.

Angesichts eines solchen beispiellosen Auftragsbooms prognostizierte Rheinmetall-Chef Armin Papperger in der »WirtschaftsWoche« für sein Unternehmen »ein Potenzial zwischen 300 und 400 Milliarden Euro bis zum Jahr 2030«. Aber auch anderen deutschen Rüstungsfirmen wie dem Getriebefabrikanten Renk, dem Lenkflugkörper-Hersteller Diehl oder dem Panzerbauer KNDS winken stattliche Gewinne.

Krieg – eine Frage des Profits

Damit solche Profite langfristig realisiert werden können, ist es mit Aufrüstung allein nicht getan. Um die Nachfrage nach Rüstungsgütern dauerhaft sicherzustellen, müssen diese auch in Kriegen verbraucht werden. Das hat auch der politische Überbau verstanden. Doch nur wenige sprechen es so deutlich aus wie der ehemalige BND-Chef Bruno Kahl, der in einem Interview in der »Deutschen Welle« erklärte, daß ein Kriegsende in der Ukraine vor dem Ende des laufenden Jahrzehnts »nicht wünschenswert« sei. Manche mögen schockiert sein über den unmißverständlichen Ruf aus dem Staatsapparat nach Fortsetzung des tausendfachen Mordens. Andere berufen sich schlicht auf das in »unserem« Wirtschaftssystem garantierte Recht auf »unternehmerische Freiheit«.

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