Ausland05. Mai 2021

Napoleon Bonaparte

Repräsentant der Revolution und Eroberer

von Gerhard Feldbauer

Der Fernsehsender ARTE sendete vor wenigen Tagen anläßlich 200. Todestag Napoleons am 5. Mai ein Porträtbild »Der Tod hat sieben Leben«. Die Dokumentation ging völlig an der historischen Realität, der herausragenden Rolle Napoleons in der Epoche des Übergangs vom Feudalismus zur Herrschaft der Bourgeoisie, vorbei.

Mit der Großen Französischen Revolution (1789-1794) kam in Paris die Bourgeoisie an die Macht. Frankreich wurde zum Zentrum des politischen Weltgeschehens, von dem die entscheidenden Impulse für den gesellschaftlichen Fortschritt in Europa ausgingen. Unter Bonaparte trat die Bourgeoisie an, ihre Vorherrschaft auf dem Kontinent durchzusetzen – ein völlig natürlicher Prozeß. 1796 drang Napoleon in Italien ein. Die Jakobiner und viele Italiener jubelten den Revolutionstruppen des 27-jährigen korsischen Generals zu, der die österreichischen Truppen vor sich hertrieb und am 15. Mai 1796 in Mailand einzog.

Gewaltenteilung und bürgerliche Freiheiten

Als Marschall Berthier im Februar 1798 Rom besetzte und im Kirchenstaat die Römische Republik proklamierte, bildete das einen Glanzpunkt revolutionären Einflusses. Zum ersten Mal wurde die vor über tausend Jahren errichtete erzreaktionäre weltliche Herrschaft der Päpste beseitigt. Nachdem Papst Pius VI. sich weigerte, einen Regierungsverzicht zu erklären, wurde er verhaftet und nach Frankreich verbracht, wo er im Sommer 1799 starb.

In Oberitalien bildete Napoleon mit der Zisalpinischen und der Ligurischen Republik französische »Tochterrepubliken«. Die verkündeten Verfassungen entsprachen der französischen von 1795. Sie garantierten die Gewaltenteilung und bürgerliche Freiheiten. Die Einführung der Zivilehe und der Scheidung schränkten den Einfluß der Kirche ein. Im Dezember 1798 zwang Napoleon Piemonts König, Karl Emanuel IV. abzudanken. Der wichtigste italienische Staat wurde aber nicht zur Republik erklärt, sondern französischer Vorherrschaft unterworfen.

Kaiser der Franzosen und König Italiens

Nach dem Sieg über die Österreicher fiel die Lombardei 1897 im Frieden von Campo Formio an Frankreich. Wien erhielt im Interessenausgleich Venetien. 1802 wurde Piemont, 1805 Venedig und 1809 der Kirchenstaat eingenommen bzw. zurückerobert, Rom zur »zweiten Stadt« des Reiches erklärt. Die Lombardei, die Romagna, Umbrien und Venetien ernannte Napoleon zum Königreich Italien. Im Süden proklamierte er das Königreich Neapel, dessen Monarch bis 1808 sein älterer Bruder Joseph war, danach bis 1815 sein Schwager Marschall Joachim Murat. Sich selbst hatte Bonaparte nur wenige Monate nach seiner Krönung zum Kaiser der Franzosen im März 1805 im Dom von Mailand zum König Italiens ausgerufen. Ausgenommen Sardinien und Sizilien, deren Schutz die britische Flotte garantierte, beherrschte Frankreich zu dieser Zeit ganz Italien.

Zwischenzeitlich nutzten Rußland und Österreich den erfolglosen Feldzug Napoleons gegen Britannien in Ägypten, um zurückzuschlagen. Unter General Suworow vertrieben russisch-österreichische Truppen vorübergehend die Franzosen aus Norditalien. Eine konterrevolutionäre Armee des Papstes, die der nach Sizilien geflohene Bourbonenkönig finanzierte, eroberte Neapolitanien zurück.

Tiefgreifende gesellschaftliche Veränderungen

In Italien wie danach in Deutschland traf Napoleon auf gesellschaftliche Zustände, die der Entwicklung Frankreichs um Jahrhunderte hinterher hinkten. Mit ihm kamen wesentliche Anstöße, die tiefgreifende gesellschaftliche Veränderungen einleiteten. Dieser Prozeß verlief alles andere als geradlinig. Für das Bürgertum war Napoleon jedoch nicht nur der Eindringling, sondern zunächst vor allem »der Repräsentant der Revolution, der Verkünder ihrer Grundsätze, der Zerstörer der alten Feudalgesellschaft«, wie es Friedrich Engels formulierte. Er brachte den »Code Civil« in die eroberten Länder, ein allen bestehenden weit überlegenes Gesetzbuch, das im Prinzip die Gleichheit aller Menschen anerkannte.

In Deutschland wurde das neu geschaffene Königreich Westfalen für das Bürgertum zu einer Art liberalem Musterland. Napoleon hob die Leibeigenschaft und die Privilegien des Adels auf, führte Gewerbefreiheit und auch hier den »Code Civil« ein. Der 1803 verabschiedete Reichsdeputationsausschuß löste etwa 200 deutsche Kleinstaaten auf und beseitigte damit die schlimmsten Auswüchse der politischen Zersplitterung. Im Juli 1806 bildeten 16 deutsche Fürsten den von Napoleon dominierten Rheinbund. Es folgte die offizielle Auflösung des »Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation«.

Der preußische Staat wurde »in Stücke geschlagen«

Am 14./15. Oktober 1806 trafen Napoleons noch vom Geist der Revolution beseelte Truppen bei Jena und Auerstedt erneut auf die reaktionäre preußische Arme. Deren Junkeroffiziere, die »mit Herablassung auf die Kolonnen- und Tirailleurtaktik der Franzosen« blickten, trieben ihre Soldaten in der veralteten Linienaufstellung mit »Schimpfreden und Stockprügel« an. Gegen sie marschierte Napoleons Marschall Jean Lannes, vor der Revolution Färberlehrling. Einzig der preußische Kompanieführer Hauptmann Gneisenau, sah, noch bevor der erste Schuß fiel, »schwer und ahnungsvoll« die Katastrophe heraufziehen. Der preußische Staat wurde »an einem Tag bei Jena und Auerstedt in Stücke geschlagen« hielt Friedrich Engels in seiner Schrift »Zur Geschichte der preußischen Bauern« fest.

Die Eroberungsgelüste der französischen Bourgeoisie, als deren Vollstrecker der Korse handelte, wurden deutlicher als vorher sichtbar. Im Frieden von Tilsit verlor Preußen über die Hälfte seines Staatsgebietes. Wladimir Iljitsch Lenin bezeichnete diesen Raub später als »die größte Erniedrigung Deutschlands«, die »eine Wendung zu einem gewaltigen nationalen Aufschwung« herbeiführte. Den nationalen Aufschwung leiteten gegen den Widerstand des erzreaktionären Königs Friedrich Wilhelm III. die preußischen Minister Karl Freiherr vom Stein und Karl August von Hardenberg mit ihren Reformen in Staat und Verwaltung ein, die später als »Revolution von oben« bezeichnet wurden, sowie Generalfeldmarschall August Neidhard von Gneisenau, der Theoretiker des Volkswiderstandes (Engels) und Generalleutnant Gerhard von Scharnhorst im Heereswesen ein.

Ein »böser Irrtum«

Nach der Niederlage in der Seeschlacht bei Trafalgar und dem Scheitern der Invasionspläne gegen Britannien befand sich Napoleon mit der Besetzung Portugals und Spaniens 1807/08 nochmals kurze Zeit auf der Siegesstraße. Dennoch war es ein »böser Irrtum« schrieb der Historiker Golo Mann, denn bereits 1808 begannen mit dem Aufstand von Madrid die europäischen Befreiungskriege. 1809 erhoben sich die Tiroler Bauern unter Andreas Hofer gegen die bayerisch-französischen Besatzer. Seit Österreich 1805 bei Austerlitz gegen Frankreich unterlegen war, hatte es neben Venetien und Vorarlberg auch Tirol verloren, was Napoleon dem verbündeten Bayern überließ. 12 Divisionen mußte der Kaiser gegen die von Österreichs Kaiser Franz II. im Stich gelassenen Tiroler einsetzen, ehe er sie 1809 in der zweiten Schlacht am Bergisel bei Innsbruck schlagen konnte.

Mit dem Feldzug 1812 in die unendlichen Weiten Rußlands begann die Wende. Dort verteidigte das Volk mit der nationalen Unabhängigkeit gleichzeitig die reaktionäre Zarenherrschaft. Die Niederlage der »Großen Armee« Napoleons läutete das Ende der französischen Hegemonie in Europa ein. Von 570.000 Soldaten kehrten nur knapp 30.000 zurück. Statt sich nach Frankreich zurückzuziehen, stellte sich Napoleon mit 191.000 Mann und 690 Geschützen im Oktober 1813 bei Leipzig der Allianz von Rußland, Österreich, Preußen und Schweden, die auf dem Höhepunkt der viertägigen »Völkerschlacht« 295.000 Soldaten mit 1.466 Geschützen zählte.

Sieg der feudalen Reaktion über das bürgerliche Frankreich

Der Wiener Kongreß verdeutlichte schließlich den Sieg der feudalen Reaktion über das bürgerliche Frankreich. In ihrer Propaganda war der Repräsentant der Bourgeoisie nur noch »das korsische Ungeheuer«. Während seiner Herrschaft der Hundert Tage im Frühjahr 1815 verketzerte Wien Napoleon zum »Feind der Menschheit«. Die europäischen Kaiser, Könige und Fürsten, die auf dem Wiener Kongreß um die Beute stritten, zitterten vor Furcht, es könnte Napoleon gelingen, der Revolution noch einmal Leben einzuhauchen.

Die Volksmassen, die ihm in Frankreich zujubelten, hofften das sehnlichst und glaubten ihm, wenn er erklärte, er sei gekommen, um die »Prinzipien der Großen Revolution zu schützen«. In der Tat ließ er eine liberale Verfassung ausarbeiten und durch Volksabstimmung beschließen. Er wurde in der Schlacht bei Waterloo im Juni 1815 ein letztes Mal geschlagen, weil die französische Bourgeoisie längst konterrevolutionär geworden war, ihre einstigen Ideale verraten und den Kaiser fallen gelassen hatte. So steckte in dem, was Napoleon nach seiner letzten Niederlage sagte, viel Wahrheit: »Die Mächte führen nicht Krieg mit mir, sondern mit der Revolution. Sie haben in mir immer deren Vertreter, den Mann der Revolution gesehen.«

Die Abrechnung nach den »Hundert Tagen«

Dementsprechend war die Abrechnung nach den »Hundert Tagen«. Der weiße Terror der Royalisten wütete besonders in Südfrankreich. In den Straßen von Marseille und Nimes wurden Bonapartisten und Soldaten getötet, in den Städten und Dörfern an der Mittelmeerküste Hunderte von Menschen umgebracht, Marschall Guillaume Brune wurde am 2. August 1815 in Avignon von royalistischen Fanatikern ermordet, General La Bédoyère, Marschall Ney und andere Kommandeure zum Tode verurteilt und hingerichtet. Morde und Exekutionen gab es in zahlreichen Départements.

Waterloo machte den Weg frei zur Fortsetzung der Restauration der gesellschaftlichen Verhältnisse in Europa. Die Völker, die für den Sieg ungeheure Opfer gebracht hatten, gingen leer aus. Gesellschaftlicher Fortschritt, der mit Napoleon Einzug gehalten hatte, stagnierte über mehrere Jahrzehnte. In Frankreich selbst gehörte zu den Folgen, daß die im Volk verhaßten Bourbonen den Ausgleich zwischen Adel und Großbourgeoisie herstellten, der die Feudalreaktion stärkte.

Sieg der »schlechten Sache des verjährten Vorrechts«

Stimmen großer Geister dieser Zeit hätten es besser gefunden, wenn Napoleon gesiegt, die europäischen Feudalreaktionen gestürzt und an ihrer Stelle die Bourgeoisie, wenn auch unter französischer Vorherrschaft, an die Macht gebracht hätte. Der deutsche Dichter Heinrich Heine hielt in seinem Nachlaß fest: Bei Waterloo siegte »die schlechte Sache des verjährten Vorrechts«. Napoleon vertrat – trotz aller Probleme – die »Sache der Revolution. Es war die Menschheit, welche zu Waterloo die Schlacht verloren«. Aufschlußreich die Romanze »Grenadiere«, die Heine 1822 dem Schicksal Napoleons widmete.

Johann Wolfgang von Goethe sprach von der Ablösung der bürgerlichen Vorherrschaft Napoleons durch die feudale Vormacht des Zaren. Er sah in Napoleon einen »außerordentlichen Menschen«, sprach von der »Größe des Helden«, einem »Halbgott«. Menschen aus dem Volk äußerten erschrocken, »der Adel hat gewonnen«. Golo Mann schrieb vom »Lehrgang des Napoleonischen Zeitalters«, eines ersten konzentrierten Lehrganges dessen, »was im Lauf des 19. und 20. Jahrhunderts oft gelernt und repetiert werden mußte«. Die »neuen Ideen« hielt er nicht für erschöpft. »Sie waren nun da und mächtig und blieben mächtig«. Das bezeugt, daß die Zeit Napoleons insgesamt ein großer Schritt vorwärts war in der Epoche des Übergangs vom Feudalismus zum Kapitalismus.