Leitartikel26. März 2015

»Aarbecht a sozial Ofsécherung fir jiddereen!«

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Die Befunde sind seit Jahren bekannt. Schon als die Salariatskammer vor drei Jahren ihr zweites »Panorama social au Luxembourg« präsentierte, erklärte ihr Präsident Jean-Claude Reding, in Sachen Arbeitslosigkeit, Armutsrisiko und soziale Ungleichheit sei bereits seit Mitte der 90er Jahre »ein langfristiger Trend nach unten« festzustellen.

Zwar ist das durchschnittliche Monatseinkommen im internationalen Vergleich noch immer recht hoch, doch so wie ein Nichtschwimmer in der Mitte eines im Durchschnitt anderthalb Meter tiefen Flusses ertrinken kann, gibt es immer mehr Menschen, die trotz ihrer täglichen Vollzeitarbeit Gefahr laufen, in Armut abzurutschen.

Unter Berufung auf Daten der EU-Statistikbehörde Eurostat hat die Salariatskammer erst vor wenigen Wochen darauf hingewiesen, daß das Phänomen der »working poor« in Luxemburg mittlerweile weiter verbreitet ist als in allen 27 anderen Mitgliedsländern der EU. Nachdem Luxemburg seine drei Nachbarn in dem Negativranking schon in den vergangenen Jahren stets weit hinter sich gelassen hat, war der sogenannte »Taux de risque de pauvreté des salariés« im Jahr 2013 sogar höher als in den Krisenländern Griechenland, Italien und Spanien.

Das liegt in erster Linie daran, daß der Bruttobetrag des von immerhin jedem sechsten Schaffenden bezogenen Mindestlohns von derzeit 1.922,96 Euro im Monat nur rund 300 Euro über der Schwelle zum Armutsrisiko liegt, der Nettomindestlohn häufig sogar unter der Armutsschwelle.

Gemäß EU-Definition ist armutsgefährdet, wer weniger als 60 Prozent des Einkommensmedians zur Verfügung hat. Während der Mindestlohn hierzulande nur 41 Prozent des Medianlohns beträgt, sind es in Belgien 62 und in Frankreich sogar 82 Prozent des jeweiligen Mindestlohns.
Dementsprechend war im Jahr 2013 mehr als jeder zehnte Schaffende (10,1 Prozent) in Luxemburg armutsgefährdet, in Deutschland lag der Anteil der armutsgefährdeten Schaffenden bei 7,9 Prozent, in Frankreich bei 6,8 und in Belgien bei 3,3 Prozent. Damit war das Risiko, in Armut abzurutschen, für einen Schaffenden in Luxemburg mehr als drei Mal so hoch wie in Belgien.

Infolgedessen beklagt die Salariatskammer in jedem »Sozialpanorama« aufs Neue, daß Neueingestellte, Beschäftigte mit befristeten Verträgen und Teilzeitbeschäftigte überdurchschnittlich oft nicht von ihrem Erwerbseinkommen leben können. Anders als in Frankreich, Belgien und neuerdings auch in Deutschland, wo die Mindestlöhne deutlich über den jeweiligen Armutsgrenzen liegen, ist in Luxemburg jeder alleinstehende Mindestlohnbezieher von Armut bedroht.

Es ist sehr zu begrüßen, daß sich der OGBL endlich des Themas angenommen und die Regierung aufgefordert hat, den Mindestlohn »strukturell aufzuwerten«. Unverständlich ist jedoch, warum die im Privatsektor größte Gewerkschaft eine Erhöhung des Mindestlohns um »mindestens zehn Prozent« fordert, wo doch die Salariatskammer berechnet hat, daß er um mindestens 21 Prozent erhöht werden muß, damit er vor einem Abrutschen unter die Armutsschwelle schützen kann.
Weil dem so ist, hat die KPL in ihrem mit »Aarbecht a sozial Ofsécherung fir jiddereen!« überschriebenen Programm zu den letzten Chamberwahlen eine Mindestlohnerhöhung um 20 Prozent oder 375 Euro gefordert.

Oliver Wagner