Beispiellose Heuchelei
Als Anfang Dezember die HTS, eine Allianz von rund 60 verschiedenen Islamistengruppierungen, die politische und militärische Macht in Syriens Hauptstadt Damaskus übernahm, war der Jubel in den westlichen Metropolen zwar einigermaßen verhalten, jedoch unüberhörbar. Hatte man doch jahrelang so gut wie alle zur Verfügung stehenden ökonomischen Instrumente eingesetzt, um die zwar von einer Mehrheit der syrischen Bürger gewählte, in den Ländern der »regelbasierten« Ordnung jedoch zutiefst verhaßte Regierung unter dem Präsidenten Assad aus der Welt zu schaffen.
Fast jede nur denkbare Sanktion wurde verhängt, um das Leben der Menschen in Syrien unerträglich zu machen, so daß irgendwann das Faß zum Überlaufen kommen sollte und »das Regime« zu Fall gebracht werde. Die internationale politische Isolierung wurde auf die Spitze getrieben, die Opposition im Land und auch bewaffnete Kräfte in Syrien, getrieben von zumeist fanatischen Islamismus, wurden auf alle nur denkbare Weise unterstützt – politisch, medial, finanziell, militärisch. Auch vor offen betriebenem Diebstahl schreckte man nicht zurück: In einigen von kurdischen »Widerstandskämpfern« beherrschten Regionen – rein zufällig mit reichen Ölvorkommen – hatten die USA im offenen Widerspruch zu geltendem Völkerrecht Militärstützpunkte eingerichtet, deren Aufgabe vor allem darin bestand, die bewaffneten Gruppen mit Waffen und Ausrüstung zu versorgen, sie auszubilden, und den illegalen Export von gestohlenem Öl und anderen Gütern abzusichern.
Während sich jahrelang diverse westliche Koalitionen offiziell der Bekämpfung bewaffneter Islamisten verschrieben hatten, waren diese Gotteskrieger in Syrien herzlich willkommen. Die Europäische Union und etliche ihrer Mitgliedstaaten schickten unverzüglich Repräsentanten nach Damaskus, um die neuen Herrscher, deren Anführer ihre gefleckten und befleckten Uniformen flugs in Maßanzüge getauscht hatten, um gut Wetter zu bitten und bei ihnen pflichtgemäß und den »Regeln« der »wertebasierten« Ordnung entsprechend die »Einhaltung der Menschenrechte« anzumahnen.
Allein diese Gesten – wohl von keiner der beiden Seiten als mehr betrachtet als lediglich die Wahrung des äußeren Scheins – rechte aus, um mit Eifer die »Normalisierung der Beziehungen« einzuläuten, ausgedrückt in der schrittweisen Aufhebung der ohnehin illegalen Sanktionen. In diversen Medien tauchten nun Reportagen und Berichte auf, in denen die wiedergewonnene »Freiheit« gepriesen wurde.
Und nun das. Nach und nach schafften es in der zweiten Hälfte der vergangenen Woche Berichte über regelrechte Massaker an Zivilpersonen in Syrien. Eine der ersten Meldungen betraf einen Ortsvorsteher, der von Islamisten ohne Anklage und Urteil hingerichtet wurde. Dann gab es vereinzelte Meldungen über bewaffnete Angriffe in Regionen, in denen immer noch Anhänger der Assad-Regierung vermutet werden. Schließlich ein wahrscheinlich provozierter Angriff auf die neuen »Sicherheitskräfte«, der ausreichte, um unverzüglich Truppen in der Region an der Küste zu konzentrieren und massiv zuzuschlagen. Die dokumentierten Massaker, vorwiegend an Alawiten, also Andersgläubigen, wurden zwar in den »wertebasierten« Medien zunächst erwähnt, dann aber doch mit nur einem erhobenen Zeigefinger bedacht und nach und nach mit dem Mantel des Schweigens überdeckt. Schließlich will man es sich mit den neuen Herren in Damaskus nicht verderben.