Ausland26. Mai 2021

Vietnam hat gewählt

Abgeordnete der Nationalversammlung ziehen gute Bilanz der Stärkung der Legislative

von Gerhard Feldbauer

Die rund 69 Millionen wahlberechtigten Einwohner Vietnams haben am Wochenende für die 15. Legislaturperiode von 2021 bis 2026 eine neue Nationalversammlung gewählt. Für die 500 Sitze im Einkammer-Parlament der Sozialistischen Republik Vietnam bewarben sich, wie die staatliche Nachrichtenagentur News Agency (VNA) berichtete, 866 wählbare Personen. In ihrer ersten konstituierenden Sitzung wählte das Parlament Vuong Dinh Hue zu seinem Präsidenten. Der 64-jährige Wirtschaftsprofessor war zuletzt Vizepremier und Finanzminister. Gleichzeitig wurden in den Provinzen, Kreisen und Gemeinden die Volksvertretungen für diesen Zeitraum gewählt.

Die Vorbereitungen lagen in den Händen von 63 Wahlkomitees auf Provinzebene, 682 Wahlkomitees auf Kreisebene und 10.134 auf Gemeindeebene. Insgesamt gab es 84.767 Wahlkomitees.

Wegen der Corona-Pandemie fanden die Vorstellungen der Kandidaten und die Beratungen über die Aufgaben in der kommenden Legislaturperiode generell über Online-Konferenzen statt. Wie der Vorsitzende des zentralen Wahlrates, der Generalsekretär und Leiter des Büros der Nationalversammlung, Bui Van Cuong, mitteilte, fanden wegen der Corona-Beschränkungen in 15 Provinzen die Wahlen bereits vorher statt. Laut VNA bestätigte das Innenministerium, daß trotz der Corona-Maßnahmen alle Vorbereitungen verfassungsgemäß stattfanden.

Die Nationalversammlung wählt den Präsidenten der Republik; auf dessen Vorschlag den Ministerpräsidenten, die Richter des Obersten Gerichtshofes und die Organe der Strafverfolgung, der Volksanwaltschaft (Staatsanwaltschaft). Auf Grund ihrer Befugnisse, die Verfassung sowie Änderungen von Gesetzen zu beschließen und Minister und Leiter von Behörden mit Ministerialstatus zur Verantwortung zu ziehen, übt sie großen politischen Einfluß aus. Die vietnamesische Legislative ist kein ständig tagendes Berufsparlament und tritt nur zu zwei ordentlichen Sitzungen im Jahr zusammen. Dazwischen leisten von ihr gewählte 15 Ausschüsse eine entscheidende Parlamentsarbeit.

Die Nationalversammlung hat u.a. mit der Mobilisierung der Bevölkerung einen gewichtigen Beitrag zum wirtschaftlichen Aufschwung der vergangenen Jahrzehnte geleistet. Von einem durch das koloniales Erbe und die Folgen des bis 1975 andauernden Krieges der USA und des von zunächst der Kolonialmacht Frankreich und dann durch die USA bestimmten Regimes in Südvietnam wirtschaftlich zurückgebliebenen Land ist Vietnam zu einer der dynamischsten Volkswirtschaften der Welt aufgestiegen.

Seit 2002 ist das BIP pro Kopf um fast das Dreifache gewachsen. Durchschnitts- und Mindestlöhne sind gestiegen, die Inflationsrate ist niedrig. Beispielhaft ist auch der Umgang mit der Coronapandemie, die Vietnam mit nur 37 Corona-Tote und rund 5.000 Infizierungen so gut wie nur wenige andere Länder überstanden hat.

Diesen Weg will Vietnam fortsetzen und den »Schwerpunkt stärker auf Industrialisierung und Modernisierung, Wissenschafts- und Technologieentwicklung, Innovation und qualitativ hochwertige Entwicklung der Humanressourcen legen«, wie der 13. Kongreß der Kommunistischen Partei Vietnams (KPV) im Januar/Februar dieses Jahres orientierte. Bei Beibehaltung der entscheidenden Rolle des staatlichen Wirtschaftssektors, dessen Effektivität gestärkt werden müsse, werden auch dem Privatsektor in der Wirtschaft weitere Perspektiven aufgezeigt. Vietnamesische Unternehmer können sich an neuen Industriezweigen, an der Umstrukturierung des Agrarsektors in Richtung Ökolandwirtschaft beteiligen und im Dienstleistungssektor aktiv werden.

Mit der Wahl der neuen Legislative wird entsprechend der Praxis in Vietnam die Besetzung der wichtigsten Säulen des politischen Systems – der Führungspositionen in der KPV, des Staates und der Regierung abgeschlossen. Das begann im Februar auf dem 13. Parteitag der KPV, auf dem Nguyen Phu Truong im Amt des Generalsekretärs bestätigt wurde. Im April war Pham Minh Chinh zum neuen Regierungschef gewählt worden. Sein Vorgänger Nguyen Xuan Phuc anschließend zum Staatspräsidenten. Vuong Dinh Hue ist Nachfolger von Nguyen Thị Kim Ngan. Mit der vorherigen Ministerin für Arbeit war 2016 erstmals eine Frau zur Präsidentin der Nationalversammlung gewählt worden.

Die diesjährige Wahl der Nationalversammlung Vietnams fand im 75. Jahr ihrer Konstituierung am 6. März 1946 statt, auf der Ho Chi Minh zum Präsidenten der am 2. September 1945 nach dem Sieg der Augustrevolution, dem Sieg über das französische Kolonialjoch gegründeten Demokratischen Republik Vietnam gewählt wurde. Das zweite wichtige Jubiläum war der 25. April 1976, an dem vor 45 Jahren nach der Befreiung Südvietnams von der US-amerikanischen Besatzung mit der Wahl einer Gesamtvietnamesischen Nationalversammlung die Einheit Vietnams wiederhergestellt wurde. Das nächste Jubiläum wird der 3. Juli sein, an dem 1976 die Nationalversammlung Vietnam zum einheitlichen sozialistischen Land erklärte und die Staatsbezeichnung Sozialistische Republik Vietnam mit der Hauptstadt Hanoi beschloß.