Ausland05. Mai 2022

Spuren der Geschichte

Linke Parteien in Frankreich gehen mit Wahlbündnis in die Parlamentswahl

von Ralf Klingsieck, Paris

Dem am Wochenbeginn zwischen der Bewegung La France insoumise (LFI) und der Partei der Grünen ausgehandelten Programm für eine »Neue ökologische und soziale Volksunion« ist am Dienstagabend die Französische Kommunistische Partei (PCF) beigetreten. Diese Entscheidung war am Nachmittag durch die Mitglieder des Nationalrats des PCF, des »Parlaments« der Partei, mit großer Mehrheit bestätigt worden. Die Bündnispartner haben sich darauf verständigt, daß im Fall eines überwältigenden Erfolgs bei der Parlamentswahl am 12. und 19. Juni, aus der die Volksunion als stärkste Kraft hervorgeht, der LFI-Fraktionsvorsitzende Jean-Luc Mélenchon gesetzmäßig von Präsident Macron zum Regierungschef berufen werden muß.

Das zwischen den Bündnispartnern vereinbarte Programm sieht unter anderem die Erhöhung des Mindestlohns auf 1.400 Euro, die Rückkehr zur Rente ab 60, die Renationalisierung von Energiekonzernen und Verkehrsinfrastrukturen, die Wiedereinführung der »Reichensteuer« ISF, landesweite ökologische Planung und die Bildung einer Sechsten Republik mit weniger Befugnissen für den Präsidenten und mehr direkter Demokratie für die Bürger vor. Unsozialen Entscheidungen und Direktiven der EU, die im Widerspruch zum Programm der Volksunion stehen, soll mit »staatsbürgerlichem Ungehorsam« begegnet werden.

Obwohl sie von der LFI ultimativ aufgefordert worden war, sich bis zum Abend für oder wider einen Beitritt zu entscheiden, konnte sich die Verhandlungsdelegation der Sozialistischen Partei am Dienstag bis in die späten Abendstunden zu keiner Entscheidung durchringen. Innerhalb der Partei haben zahlreiche namhafte Politiker bis hin zu Ex-Präsident Hollande Stimmung dagegen gemacht und das Programm als »unvereinbar mit den Werten der Sozialisten« bezeichnet. Erst in der Nacht zum Mittwoch erklärte auch der PS sein grundsätzliches Einverständnis. Eine »globale Einigung ist auf gutem Wege«. Berichtete »Le Monde« am Mittwochmorgen, Die PS-Führung teilte mit, daß »die inhaltlichen Diskussionen am Mittwochmorgen am Sitz der LFI fortgesetzt werden müssen«. Zur Diskussion stehe insbesondere der »selektive Ungehorsam« gegenüber der EU, der den Sozialisten immer noch Probleme bereite. Der PS erklärte, daß ihr Nationalrat »in kürzester Zeit mit einer umfassenden politischen Vereinbarung befasst werden soll«.

Daß es zum Schluß noch hektisch wurde, lag nicht zuletzt daran, daß La France insoumise und ihre Partner ihr Wahlbündnis unbedingt noch am 3. Mai unterzeichnen wollten, dem Jahrestag der Volksfront von 1936. Das hat Symbolcharakter. Seinerzeit hatte die ansteigende Flut des Faschismus in Europa, der auch in Frankreich immer mehr Anhänger fand, zu einer Annäherung der Sozialisten, der Kommunisten und der ältesten französischen Fortschrittspartei der »Radikalen« geführt. Die drei Partner handelten damals ein Regierungsprogramm aus, mit dem sie die Parlamentswahl Anfang Mai 1936 gewannen. Der Volksfrontregierung unter Premier Léon Blum gehörten nur Sozialisten und Radikale an. Der PCF stellte keine eigenen Minister, sicherte der Regierung aber ihre volle Unterstützung im Parlament zu.

Die drei Maßnahmen, die am stärksten auf die Masse der Franzosen gewirkt und sich in ihrem Gedächtnis erhalten haben, waren die Einführung verbindlicher Branchenlohnverträge, die Senkung der Wochenarbeitszeit auf 40 Stunden und der gesetzliche Anspruch auf zwei Wochen bezahlten Urlaub. Die Volksfront hielt sich nur wenige Monate und ging schrittweise in den politischen und wirtschaftlichen Wirren der Vorkriegszeit unter. Doch ihr Geist übertrug sich in den Jahren der Besetzung durch die faschistische deutsche Wehrmacht auf die Widerstandsbewegung, in der es keine Parteiengrenzen gab und aus der 1944 das fortschrittliche Programm politischer und sozialer Maßnahmen für die Nachkriegszeit hervorging, von denen viele noch bis heute fortwirken.

Eine neue Chance für die Linke eröffnete sich in den 1970er Jahren, als die Sozialisten, die Kommunisten und die kleine Partei der Linken Radikalen zueinander fanden, um ihre Kräfte für einen Umschwung in Frankreich zu vereinen. Die Sozialistische Partei, die viel von ihrer einstigen Stärke verloren hatte, war 1971 auf dem Parteitag von Epinay durch François Mitterrand übernommen, erneuert und wieder zu einer einflußreichen Partei gemacht worden, die ihn ins Elysée tragen sollte. Eine wichtige Etappe auf diesem Wege war 1972 die Unterzeichnung des zuvor über Monate zäh ausgehandelten »Gemeinsamen Regierungsprogramms der Linken«. Es setzte das Ziel, Frankreich gründlich zu reformieren. Beispielsweise sah das Programm auf sozialem Gebiet die Rente mit 60 Jahren, die Senkung der Wochenarbeitszeit, mehr Urlaub, eine Erhöhung des Mindestlohns, eine wirksame Vermögenssteuer, sozialen Dialog und vor allem die Verstaatlichung wichtiger Banken und Konzerne vor, um – wie Mitterrand es formulierte – »den freien Wettbewerb in geordneten Bahnen zu halten«.

Zu den politischen Zielen gehörte der Verzicht auf die Atomstreitmacht und die Verkürzung der Wehrpflicht auf sechs Monate, die Abschaffung der Todesstrafe, Garantien für die Unabhängigkeit der Justiz, die Dezentralisierung des Staatsapparats, die Reduzierung der Amtszeit des Präsidenten von sieben auf fünf Jahre und die Einführung des Proportionalprinzips bei Parlamentswahlen.

Diese Linksunion ermöglichte es Mitterrand, bei der Präsidentschaftswahl 1974 als gemeinsamer Kandidat der Linken anzutreten, wobei er mit 49,19 zu 50,81 Prozent nur knapp gegen Valéry Giscard d‘Estaing verlor. Durch die abgestimmte Aufstellung der Kandidaten und ihre gemeinsame Unterstützung konnten die linken Parteien bei der Kommunalwahl 1977 und bei der Parlamentswahl 1978 beträchtliche Stimmengewinne erzielen. Doch das Ende der Union zeichnete sich schon 1977 bei der Neuverhandlung des Regierungsprogramms ab.

Während die von Georges Marchais geführte Kommunistische Partei bei der Unterzeichnung des Textes 1972 noch sehr stark gewesen war, hatte sie inzwischen viele Anhänger und Wähler an die Sozialisten verloren. Was Mitterrand einmal intern als »Umarmungstaktik« bezeichnet hatte, um die Kommunisten zu schwächen, zeigte Wirkung. Der PCF reagierte mit einer Verschärfung der Forderungen für das Regierungsprogramm, doch darüber kam es zum Bruch. Was blieb, war ein schlichtes Wahlabkommen der Linken, das aber noch ausreichte, um François Mitterrand 1981 zum Präsidenten wählen zu lassen. Um sich zu revanchieren, übernahm der Präsident vier Kommunisten als Minister in die erste Linksregierung. Sie traten 1983 aus Protest gegen die Wende der Wirtschafts- und Sozialpolitik in Richtung drastischer Sparmaßnahmen und Neoliberalismus zurück.