Ausland03. Juni 2025

Palästina ausradieren

Israels Angriffskrieg gegen Gaza wird unvermindert fortgesetzt. Humanitäre Hilfe wird weiterhin verhindert

von Karin Leukefeld

Mit der Humanitären Gaza-Stiftung versuchen Israel und die USA erneut, ihre zivil-militärischen Pläne im Gazastreifen umzusetzen. Doch wieder gelingt es nicht. Am ersten offiziellen Arbeitstag, am Dienstag vergangener Woche, verloren die Organisatoren angesichts einer aufgebrachten, hungrigen Menschenmenge die Kontrolle. Die ausländischen Helfer hätten sich zurückgezogen, berichtete das israelische Nachrichtenportal ynetnews.org. Ein Verteilzentrum in Rafah soll geplündert worden sein. Aus israelischen Hubschraubern und von der israelischen Artillerie sei geschossen worden, berichteten Medien. Aus Kreisen von Hilfsorganisationen wurden Zweifel laut, ob überhaupt Hilfsgüter verteilt worden seien.

Es ist das dritte Mal, daß Israel angibt, humanitäre Hilfe zu leisten und gleichzeitig den Krieg in Gaza verschärft. Die israelische Armee bombardiert von See, am Boden und aus der Luft, und Besatzungstruppen rücken immer weiter in den palästinensischen Küstenstreifen vor. Die Zahl der Toten ist nach offiziellen palästinensischen Angaben deutlich über 54.000 gestiegen, täglich kommen Dutzende hinzu. Tausende Tote liegen unter den Trümmern und können nicht geborgen werden. Denn die israelischen Angriffe gehen weiter. Und weiter gehen auch die Waffenlieferungen.

»Gaza Nakba 2«

»Schaltet den Feind jetzt aus! Heute ist unser Pearl Harbour. Wir werden unsere Hausaufgaben machen, jetzt gibt es nur ein Ziel: Nakba!« Diese markigen Worte veröffentlichte Ariel Kallner, ein Abgeordneter der Likud-Partei in der israelischen Knesset am 7. Oktober 2023 über seinen X-Kanal.

Die neue Nakba werde »die Nakba von 1948 in den Schatten stellen«, verkündete der damals 43-jährige Rechtsaußen der Likud-Partei. »Nakba in Gaza und Nakba gegen jeden, der es wagt sich (den Palästinensern) anzuschließen. Ihre Nakba. Denn wie damals ist die Alternative klar.« Ariel Kallner weiß, wovon er spricht. Schon als Student hatte er gegen die Räumung der israelischen Siedlungen im Gaza-Streifen protestiert, am 7. Oktober 2023 forderte er die ethnische Säuberung des Palästinensergebietes.

Unterstützung erhielt Kallner von seinem Parteikollegen und Landwirtschaftsminister Avi Dichter wenig später. Als Dichter von einem Journalisten am 12. November 2023 gefragt wurde, ob man die Bilder der Vertreibung der Bewohner des nördlichen Gazastreifens mit den Bilder der Nakba vergleichen könne, antwortete er: »Wir sind gerade dabei, die Nakba von Gaza vorzuführen. Aus operativer Sicht ist es unmöglich, einen Krieg zu führen, wie es die Israelische Armee gerade in Gaza versucht«, so Dichter. »Wenn sich zwischen den Panzern und den Soldaten Menschenmassen befinden.«

Als der Journalist nachfragte, ob es sich um eine »Gaza Nakba 2« handle, stimmte Dichter zu: »Gaza Nakba 2023. Darauf läuft es hinaus.« Avi Dichter ist nicht irgendein Politiker, er gehörte dem israelischen Sicherheitskabinett an und war Leiter des Inlandsgeheimdienstes Shin Bet. Er wußte also seit Jahren, wie es um Gaza bestellt war und was dort vor sich ging.

Die Waffe der Blockade

Es gibt viele Arten zu töten und Israel nutzt gegen den Gazastreifen seit 2007 die Waffe der Blockade. Auch im Krieg seit dem 7. Oktober 2023 sollen Nahrungsmittel, Wasser, Treibstoff zum Betreiben von Generatoren, Medikamente und vieles mehr die Menschen nicht erreichen. Vor dem Grenzübergang Rafah im südlichen Gazastreifen stehen auf der ägyptischen Seite kilometerlange Schlangen von Lastwagen, die Israel nicht passieren läßt. Die Hamas »bereichere sich« an den Hilfslieferungen, behauptet Israel. Die Hamas stehle die Hilfsgüter aus den Depots und verkaufe sie, um Geld für Waffen zu bekommen. Die UNWRA, die UNO-Organisation für die Unterstützung der Palästinensischen Flüchtlinge, beschäftige »Hamas-Terroristen«, sei an dem Angriff der Palästinenser am 7. Oktober 2023 beteiligt gewesen und stecke »mit der Hamas unter einer Decke«. Belege für die Behauptungen gibt es nicht.

Der israelische Zorn gegen die UNRWA hat Geschichte. Die Gründung der Organisation ist eng mit der Nakba, der gewaltsamen Vertreibung der Palästinenser seit dem Jahr 1948 verbunden. Die UNRWA hätte es wohl nie gegeben, wären die Palästinenser nicht von den zionistischen Milizen von ihrem Grund und Boden vertrieben worden. Aufgabe der UNRWA ist es, die Menschen zu versorgen, die im Zuge der israelischen Staatsgründung in ihren Dörfern ermordet oder aus ihrer Heimat vertrieben worden waren. Die Existenz der UNRWA erinnert auch den Staat Israel täglich daran, daß die Palästinenser Rechte haben, daß sie ein Recht auf Rückkehr in ihre Heimat haben und das Recht auf ihren Staat. Rechte, die der Staat Israel seit seiner Gründung den Palästinensern versagt.

Im Herbst 2024 erklärte das israelische Parlament, die Knesset, die UNRWA zu einer »Terror«-Organisation und verbot deren Arbeit in von Israel kontrollierten Gebieten. Niemand durfte mit der UNRWA weiter kooperieren. Ihr Hauptquartier wurde beschlagnahmt, in Gaza wurden Hunderte Schulen, Kindergärten, Kliniken, Lagerhallen und Gebäude der UNRWA zerbombt.

Die israelischen Angriffe auf die UNRWA gingen einher mit der Aufforderung an internationale Geberländer, kein Geld mehr an die UNRWA zu zahlen. Viele Staaten, auch Deutschland, stellten ihre Zahlungen ganz oder vorübergehend ein. Die israelischen Luftangriffe auf UNO-Einrichtungen verschärften sich. Im Oktober 2024 erklärte das UNO-Büro für die humanitäre Hilfe (OCHA), daß 281 UNO-Mitarbeiter bei israelischen Angriffen im Gazastreifen getötet worden seien.

Eine »humanitäre Luftbrücke«

Parallel zu den israelischen Angriffen auf die UNRWA-Einrichtungen und der Diffamierung UNO, suchte die israelische Regierung nach einer Alternative zur der humanitären UNO-Arbeit. Insbesondere suchte Israel eine »Ersatzorganisation« für die UNRWA, um gewisse Lieferungen für Palästinenser zu organisieren. Als Finanziers einer Alternative boten sich die EU und EU-Kommissionspräsidenten Ursula von der Leyen sowie die USA an, die ihrem »strategischen Partner« Israel – dem Wächter ihrer Interessen im Nahen und Mittleren Osten – zur Seite stehen wollten.

Im März 2024 starteten mehrere Länder eine Art Luftbrücke und warfen aus Militärmaschinen Hilfspakete über dem Gazastreifen ab. Die von Jordanien koordinierte und von jordanischem Boden aus durchgeführte »Operation« wirkte eher wie eine zivil-militärische Übung. Die Verteilung vor Ort wurde nicht organisiert, die abgeworfenen Hilfslieferungen landeten ungenau – auch auf Menschen oder im Wasser – und wurden von denen geborgen, die zuerst an Ort und Stelle waren. Hilfsorganisationen, die seit Jahren mit der UNO und dem Internationalen Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) in Gaza die Versorgung der Bevölkerung durchführten, kritisierten die Operation als teuer, aufwendig und nicht praktikabel.

Ein »humanitärer Landepier«

Etwa zeitgleich begannen die USA mit der Planung eines Landepiers an der Küste von Gaza. Das offizielle Ziel war, Hilfsgüter – die auch von der EU-Kommission finanziert waren – von der Republik Zypern aus per Schiff über den Pier am Strand von Gaza anzulanden. Die Konstruktion wurde in Kooperation mit COGAT durchgeführt, einer Abteilung im israelischen Kriegsministerium, die für die Zivilangelegenheiten in den (besetzten) palästinensischen Gebieten zuständig ist.

Nach etwa zwei Monaten Konstruktionsarbeit nahm der Pier Mitte Mai 2024 die Arbeit auf. An Land wurde eine »militärische Sicherheitszone« eingerichtet. Israelische Soldaten und Militärs der USA sollten die Hilfsgüter löschen und in Lagerhäusern stapeln, wo sie an die US-amerikanische Zentrale Weltküche (https://wck.org/) übergeben werden sollten. Die Aufgabe dieser Organisation war, die Versorgung der Bevölkerung in Gaza zu übernehmen, damit die UNRWA ausgegrenzt werden konnte. Nachdem sieben Mitarbeiter der Organisation bei einem israelischen Angriff getötet wurden, stellte die Organisation ihre Arbeit in Gaza ein.

Der Pier mußte wegen schlechtem Wetter und starkem Sturm wiederholt die Arbeit einstellen. Mitte Juli 2024 wurde er komplett wieder abgebaut. Die Versorgung der Bevölkerung von Gaza mit Hilfsgütern wurde erneut von UNRWA und dem Welternährungsprogramm der UNO übernommen. Die Angriffe auf die Hilfsorganisationen nahmen zu.

Israel bricht die Waffenruhe

Am 19. Januar 2025 begann eine Waffenruhe, die aus zunächst drei Phasen bestehen sollte. Der Plan wurde vom UNO-Sicherheitsrat per Resolution unterstützt. Die UNRWA und andere UNO-Organisationen nahmen ihre Arbeit im Gazastreifen wieder auf. Bis zu 600 Lastwagen erreichten die UNO-Lagerhäuser täglich und wurden von dort zu anderen Verteilzentren gebracht. Wöchentlich wurden israelische Gefangene aus dem Gaza-Streifen freigelassen und im Gegenzug kamen palästinensische Gefangene frei. Bulldozer und schweres Gerät erreichten den Küstenstreifen, die Menschen begannen, die Toten zu bergen.

Kurz nach dem Ende der ersten Phase erklärte Israel, die nächste Phase der Vereinbarung nicht einhalten zu wollen. Die Rhetorik gegen die Bevölkerung im Gaza-Streifen verschärfte sich, Außenminister Israel Katz forderte von den Menschen, die israelischen Geiseln freizulassen und »die Hamas zu verjagen«. Die USA unterstützten Israel und schlugen eine andere Regelung vor als die, auf sich die beiden Seiten nach Monaten von Verhandlungen geeinigt hatten. Die Hamas lehnte ab und beharrte auf der ursprünglichen Drei-Phasen-Vereinbarung.

Am 2. März trat erneut eine Blockade gegen den Gazastreifen in Kraft, die bis heute anhält. Am 18. März wurden die Angriffe der israelischen Armee mit großer Wucht wieder aufgenommen, nach nur einem Tag meldeten die palästinensischen Gesundheitsbehörden mehr als 400 Tote. Benjamin Netanjahu erklärte, das sei »erst der Anfang«.

Die Humanitäre Gaza-Stiftung

Seit mehr als einem Jahr hatten Israel und die USA an einer Organisation gearbeitet, die im Mai offiziell in Genf vorgestellt wurde: Die private Humanitäre Gaza Stiftung (Gaza Humanitarian Foundation, GHF). Die Stiftung wird von der UNO und allgemein von Hilfsorganisationen scharf kritisiert, weil sie sich dem erklärten israelischen Plan anpaßt, die Palästinenser aus dem Gazastreifen zu vertreiben.

Die GHF begann mit ihrer Arbeit am vergangenen Dienstag, dem 27.5.2025. Die Hilfspakete sollten in der Stadt Rafah verteilt werden. Die Organisation arbeitet mit bewaffneten privaten US-amerikanischen Sicherheitskräften. Ein UNO-Sprecher erklärte, die Sache sei lediglich »eine Ablenkung von dem, was nötig ist«. Er forderte, daß Israel umgehend alle Grenzübergänge für die Lastwagen mit Hilfslieferungen öffnet, die in langen Schlangen dort warteten. Die UNO und mit ihr kooperierende internationale Hilfsorganisationen lehnen es ab, mit der GHF zusammenzuarbeiten. Die Organisation orientiere sich nicht an humanitären Prinzipien und mache »humanitäre Hilfe zu einer Waffe«.

Die überwiegende Zahl der Menschen in Gaza seien ausgeschlossen, wenn sie keine Transportmöglichkeiten haben, wenn sie krank oder behindert seien, Witwen, die ihre Kinder allein lassen müßten und Menschen aus dem Norden des Gazastreifens, die lange Strecken zurücklegen müßten, um die Verteilzentren zu erreichen könnten nicht zurückkehren. Die Hilfe werde mit politischen und militärischen Zielen verbunden, die Menschen aus ihren Wohngebieten zu vertreiben und in bestimmten Gebieten, so genannten Sicherheitszonen »zu konzentrieren«. Das Vorgehen solle international neue Maßstäbe setzen, die Kriegszielen untergeordnet würden.

Komplettlösungen für Kriegsgebiete

Die GHF ist ein Projekt der »gemeinnützigen Organisation« Fogbow, die »humanitären Zugang und Einsätze in schwierigen Umgebungen ermöglicht«. Die Teams operieren aktuell in Gaza und im Sudan und können auf Erfahrungen im »humanitären, privaten und militärischen Bereich« zurückgreifen. »Wir bieten Komplettlösungen für komplexe logistische Herausforderungen«, heißt es in der Selbstdarstellung auf der Webseite der Organisation.

Fogbow wird von ehemaligen US-amerikanischen Militärs und CIA-Mitarbeitern geleitet und war bereits an der Planung des »humanitären Piers« beteiligt, der von der USA-Marine an der Küste des Gazastreifens betrieben wurde. Beraten wird Fogbow vom ehemaligen Leiter des Welternährungsprogramms David Beasley, heißt es in einem Bericht des Internetportals »The New Humanitarian«.

Unmittelbar vor Beginn der Verteilung von Hilfsgütern am Verteilzentrum Rafah trat der Leiter von GHF, der Veteran des USA-Militärs Jake Wood von seinem Posten zurück. Die Stiftung verstoße gegen humanitäre Grundsätze, sagte Wood gegenüber dem Nachrichtensender CNN. Die Hilfe für den belagerten Gazastreifen müsse deutlich ausgeweitet werden. Er werde von den humanitären Grundsätzen – Menschlichkeit, Neutralität, Unparteilichkeit und Unabhängigkeit – nicht abweichen. Es sei »klar, daß es nicht möglich ist, diesen Plan umzusetzen und gleichzeitig« diese Grundsätze einzuhalten.

Millionen Menschen weltweit und auch EU-Staaten wie Spanien fordern, Waffenlieferungen an Israel zu stoppen. Zuletzt sprachen sich 17 EU-Staaten dafür aus, das Handelsabkommen zwischen der EU und Israel zur Überprüfung auszusetzen.

Am Vernichtungswillen der israelischen Regierung gegen die Palästinenser in Gaza und im Westjordanland kann kein Zweifel mehr bleiben, die israelische Knesset hat gerade den Bau von 22 neuen Siedlungen im Westjordanland beschlossen, was eindeutig gegen Internationales Recht verstößt. Man wolle damit einen palästinensischen Staat »verhindern«, erklärte der Israels Außenminister Katz unverblümt.