Ausland05. Juni 2010

Auf Provokationskurs

Nach dem Untergang der Korvette »Cheonan« bei einem Seemanöver der USA und Südkoreas: Während Seoul und Washington Sturm blasen, wollen Peking und Moskau die Wogen glätten – Teil 2 und Schluß

Aus Pjöngjang hagelte es unmittelbar nach der Veröffentlichung des »Cheonan«-Reports harsche Reaktionen. Der Bericht, meldete die staatliche Nachrichtenagentur KCNA, entbehre jeglicher Grundlage und sei »fabriziert«. In einer ihrer seltenen direkten Stellungnahmen warf die Nationale Verteidigungskommission Seoul vor, der Bericht sei Teil eines »abgekarteten Spieles«. Der Vizevorsitzende der Kommission und somit die Nummer 2 in der nordkoreanischen Nomenklatur, der knapp 80-jährige General O Kuk-Ryol, beschuldigte Washington und Seoul, Nordkorea isolieren und durch massiven Druck erwürgen zu wollen. Sollte Südkorea Strafmaßnahmen ergreifen, drohe dem Land ein »totaler Krieg«. Nordkorea kündigte gleichzeitig an, die direkte Kommunikation mit Seoul zu kappen und bis zum Ende von Lees Amtszeit Anfang 2013 den Dialog einzustellen.

Hinter dieser Eskalationsstufe vermuten südkoreanische Nordkorea-Analytiker das Kalkül Pjöngjangs, aufgrund der prekären außenpolitischen und Sicherheitslage die Binnensolidarität zu festigen, was es dem Regime Kim Jong-Ils schließlich erlaubte, den angeblich designierten Sohn-Nachfolger, den 28-jährigen Kim Jong-Un, zu protegieren.

Unterschiedliche Kalküle

Südkorea, die USA und Japan könnten aus je unterschiedlichen Gründen das größte Kapital aus der aktuellen Krise schlagen. Präsident Lee bereitet seinem Spitznamen »der Bulldozer« einmal mehr alle Ehre, zumal er zu Beginn seiner Amtszeit Ende Februar 2008 unmißverständlich klargemacht hatte, er werde mit der ein Jahrzehnt lang von seinen Vorgängern verfolgten »Sonnenscheinpolitik« vis-à-vis dem Norden brechen. Diese sei zu teuer, zu unergiebig und zu lasch. Lee profitiert politisch von einer aufgebauten Schreckkulisse. Noch in diesem Monat stehen Gouverneurs- und Bürgermeisterwahlen an, aus denen seine stramm konservative Grand National Party unbedingt siegreich hervorgehen will.

Unmittelbar nachdem Lee sein Amt antrat, setzte er sich brüsk über die von seinem Amtsvorgänger gemachte Zusage hinweg, gemeinsam mit dem Norden vertrauensvolle Gespräche zu beginnen, um die ungelösten Probleme der maritimen Grenzen (den Verlauf entlang der sogenannten Northern Limit Line betreffend) zu klären. Pjöngjang reagierte erbost und wertete das als offenen Affront – als hätte jemand dem »Geliebten Führer« höchstpersönlich in die Augen gestochen. So verwunderte es nicht, daß sich gerade in den fraglichen Gewässern Spannungen aufbauten.

Die USA werden die Ereignisse zum Anlaß nehmen, fortgesetzt ihre Streitkräfte in Korea, augenblicklich 28.500 Soldaten, zu belassen und auf der benachbarten japanischen Insel Okinawa weiterhin Militärstützpunkte zu unterhalten. Dagegen regt sich seit langem Widerstand seitens des Großteils der Bevölkerung in Japan, die vor allem den US-Stützpunkt Futenma lieber heute als morgen geschlossen sähe. Dieses populäre Anliegen hatte Hatoyama während des Wahlkampfs aufgegriffen, und es bescherte ihm letztlich einen überwältigenden Wahlerfolg im September vergangenen Jahres, als seine Demokratische Partei gemeinsam mit den Sozialdemokraten und der national-konservativen Neuen Volkspartei an die Macht gelangt war.

Futenma, eine Basis des US-Marinekorps, sollte gemäß einem 2006 unterzeichneten Abkommen mit Washington an einen ruhigeren Ort auf der Insel verlegt und etwa 8.000 dort stationierte Marinesoldaten sollten nach Guam gebracht werden. Hatoyama hatte versprochen, sich dafür einzusetzen, daß der Stützpunkt außerhalb Okinawas oder außerhalb Japans verlegt wird. Doch die erneut angespannte Situation auf der koreanischen Halbinsel und entsprechender Druck aus Washington veranlaßten ihn zur Kehrtwende. Nun soll ein Ersatzstandort für Futenma doch auf Okinawa entstehen, was zum Ausscheiden der Sozialdemokraten aus der Regierung und zu massiven Protestkundgebungen auf der Insel führte.

Am Mittwoch trat Hatoyama zurück; er begründete diesen Schritt mit dem nicht eingehaltenen Wahlversprechen, den Marinestützpunkt »nach außerhalb des Landes oder zumindest außerhalb der Präfektur zu verlegen«. Damit habe die Regierung das Vertrauen des Volkes eingebüßt.

Krisenlösung à la Tongking?

Internationale Korea-Kenner und südkoreanische Nordkorea-Experten sind Fragen nachgegangen, die bisher in den Mainstream-Medien nur spärlich Gehör fanden oder die zu mißliebig sind, so daß Regierungsstellen alles daransetzen, entsprechende Recherchen der Zensur zu unterwerfen.

So berichtete beispielsweise der japanische Reporter Tanaka Sakai, daß die »Cheonan« nicht nur während des laufenden gemeinsamen US-amerikanisch-südkoreanischen Seemanövers »Foal Eagle« Opfer eines sogenannten »friendly fire« wurde, sondern daß darüber hinaus ein – möglicherweise mit Atomwaffen bestücktes – Unterseeboot der USA in den Gewässern sank. Eine Nachricht, die ebenfalls kurzzeitig vom südkoreanischen Sender KBS verbreitet wurde. Auf massiven Druck seitens der Militärbehörden beider Länder sollen daraufhin weitere Recherchen unterdrückt worden sein, um die südkoreanische Öffentlichkeit nicht zu verunsichern und dem Norden keinen Anlaß zu »unkontrollierten Aktionen« zu geben. Entgegen der ursprünglichen Planung, so Tanaka weiter unter Berufung auf eine gemeinsame US-amerikanisch-südkoreanische Erklärung, sei »Foal Eagle« nicht bereits am 18. März abgeschlossen, sondern bis zum 30. April verlängert worden.

»Wie kann es angehen«, fragte Jeff Stein in der »Washington Post«, »daß ein Unterseeboot einer fünftrangigen Macht imstande war, in ein laufendes US-amerikanisch-südkoreanisches Seemanöver (Foal Eagle – R. W.) einzugreifen und ein Schiff zu versenken, das eigens für die Erkennung und Abwehr von U-Boot-Angriffen bestimmt war?« Und in einem Beitrag für die Seouler Tageszeitung »Hankyoreh« gab der ausgewiesene Nordkorea-Kenner Selig S. Harrison zu bedenken: »Ein gemeinsames südkoreanisch-US-amerikanisches Seemanöver unter Beteiligung mehrerer Kriegsschiffe der Aegis-Klasse fand zu einer Zeit statt, als mit der ‚Cheonan’ eine patrouillierende Kampfkorvette (PCC) sank, die eigens zur Bekämpfung von Unterseebooten bestimmt war. Bleibt die Frage, ob es für ein nordkoreanisches Unterseeboot überhaupt möglich war, in einen maritimen Cordon einzudringen, in dem gerade die höchste Sicherheitsstufe herrschte und ohne daß die ‚Cheonan’ dies aufgespürt und umgehend gemeldet hätte.« Nordkorea, so Harrison weiter, das umgerechnet etwa sieben Milliarden US-Dollar jährlich für seine Verteidigung ausgibt, könne schwerlich mit Südkorea konkurrieren, dessen entsprechender Jahresetat das Dreifache beträgt. Südkoreas Präsident Lee verfolge wie frühere Militärmachthaber des Landes das Ziel, auf einen Kollaps des Nordens hinzuarbeiten und diesen schließlich zu schlucken.

Sollte sich die Information des rt-Journalisten Wayne Madsen erhärten, dann befanden sich in der Trefferrakete deutsche Bauteile – ein Indiz für Nordkoreas Unschuld?

Bruce Cumings, emeritierter Historiker an der University of Chicago, verwies darauf, daß es in diesem Teil des Gelben Meeres in der Vergangenheit wiederholt zu militärischen Konfrontationen gekommen sei. 1999 beispielsweise fanden dort 30 Nordkoreaner den Tod und 70 weitere wurden schwer verletzt. Doch das führte damals weder in Seoul noch in Pjöngjang zu Spannungen, weil Präsident Kim Dae-Jung seine auf Ausgleich bedachte »Sonnenscheinpolitik« betrieb und sich beide Seiten auf den ersten innerkoreanischen Gipfel Mitte Juni 2000 in Pjöngjang vorbereiteten.

Andere Korea-Experten – wie Stephen Gowans und der als Korrespondent in Korea seit vielen Jahren arbeitende Journalist Donald Kirk – sprechen mit Verweis auf den »Cheonan-Vorfall« von einem »koreanischen 9/11« beziehungsweise von einer Neuauflage des »Tongking-Zwischenfalls«. Dieser lieferte Washington am 2. August 1964 den Vorwand, die Aggression gegen Vietnam zu rechtfertigen und zu eskalieren.

Auch heute drehen die USA weiter an der Eskalationsschraube. Am Mittwoch wurde verkündet, es werde ein neues Manöver Südkoreas mit den USA geben. An der Übung vom 8. bis 11. Juni werden der Flugzeugträger »USS Washington« der 7. US-Flotte sowie ein Atom-U-Boot und mehrere weitere Kampfschiffe beider Länder teilnehmen. Nach Abschluß des militärischen Muskelspiels sollen die Übungen von U-Booten der USA und Südkoreas in diesem Raum fortgesetzt werden.

Rainer Werning