Ausland07. Juni 2025

Welche Zukunft hat der Libanon?

Israel will den Zedernstaat in die Gefolgschaft bomben

von Karin Leukefeld, Beirut

Die libanesische Regierung steht unter Druck. Im Süden des Landes muß die israelische Armee zurückgedrängt werden, im Norden drängen die Milizen der neuen syrischen Machthaber vor. Fortwährende Interventionen aus dem Ausland geben den Libanesen weder Raum noch Zeit, sich unabhängig von ausländischer Einmischung und miteinander auf eine politische Strategie für die Einheit des Landes zu einigen.

Am Donnerstag teilte das libanesische Gesundheitsministerium mit, zwei Personen seien im Südlibanon bei zwei Angriffen der Israelischen Armee getötet worden. Israel bestätigte die Angriffe und erklärte, zwei »Hisbollah-Terroristen« getötet zu haben. Nach Angaben der libanesischen Behörden wurde ein Mann in Kfar Kila, unmittelbar an der »Blauen Linie«, von Israel erschossen. Er arbeitete an der Wiederherstellung eines Gebäudes. Israel erklärte, »der Hisbollah-Terrorist« habe versucht, eine »Angriffs- und Verteidigungsanlage« seiner Gruppe zu reparieren. Die zweite Person wurde in einem Waldgebiet bei Nabatiyeh al-Fawqa im Landesinneren mit einem Drohnenangriff getötet. Nach Angaben der dortigen Behörden handelte es sich bei dem Mann um einen städtischen Mitarbeiter. Er war auf dem Weg zu einem Brunnen, der repariert werden mußte, als sein Motorrad attackiert wurde.

Angriffe am Vorabend von Eid al-Adha

In der Nacht zu Freitag bombardierte die israelische Armee trotz vereinbarter Waffenruhe erneut die südlichen Vororte Burj al Brajneh, Haret Hreik, Al Qaim und Hadath in der libanesischen Hauptstadt Beirut. Östlich von Saida wurden am gleichen Abend zwei Wohnhäuser im Ort Al Qana angegriffen. Die muslimische Bevölkerung bereitete sich zu diesem Zeitpunkt auf Eid al-Adha, das Opferfest vor. Das Fest gehört zu den großen Feiertagen der Muslime und geht mit der jährlichen Haj, der Pilgerreise nach Mekka einher. In diesem Jahr fällt Eid al-Adha mit dem von Christen gefeierten Pfingstfest zusammen. In den letzten Tagen waren Zehntausende Libanesen aus dem Ausland in ihre Heimat gekommen, um die jeweiligen Feiertage mit ihren Familien zu feiern.

Am späten Donnerstagabend hatte die israelische Armee über soziale Medien Satellitenaufnahmen der genannten Beiruter Stadtteile verbreitet, auf denen Gebäude rot markiert waren. Es handle sich angeblich um Gebäude, die der Hisbollah gehörten, erklärte ein israelischer Armeesprecher in Arabisch. Dort befänden sich Produktionsstädten für Drohnen, die eliminiert würden. Beweise für die Behauptungen wurden nicht vorgelegt. Die Bevölkerung in den dicht besiedelten Wohngebieten wurde aufgefordert, die Gebäude zu verlassen und sich um 300 – 500 Meter zu entfernen. Eine knappe Stunde später warfen zunächst Drohnen Warnbomben ab, dann bombardierte die israelische Luftwaffe. Laut bisher vorliegenden Berichten wurden acht Wohnhäuser bombardiert. Ob Menschen getötet oder verletzt wurden, war bis Redaktionsschluß nicht bekannt.

Israel verhindert die Untersuchung seiner Vorwürfe

Gemäß der von den USA, Frankreich, Israel sowie der UNO-Friedensmission UNIFIL und dem Libanon vereinbarten Waffenruhe von Ende November 2024 begab sich ein Team der libanesischen Armee und der UNIFIL in die markierten Gebäude, um den Wahrheitsgehalt der israelischen Angaben zu überprüfen. Der Nachrichtensender »Al Mayadeen« berichtete unter Berufung auf Sicherheitskreise, Israel habe den Mechanismus ignoriert und angegriffen. Der Abgeordnete Ali Hassan Khalil sagte gegenüber dem Sender, die libanesische Armee sollte die markierten Gebäude mit der Zustimmung aller Parteien untersuchen, »doch der Feind bestand darauf, sie zu bombardieren«.

Die Spitzen des Staates wandten sich unmittelbar nach den Angriffen an die Öffentlichkeit. Der libanesische Präsident Joseph Aoun sprach von einem »schamlosen Bruch der internationalen Vereinbarung« für die Waffenruhe im Libanon. Die Angriffe seien zweifelsohne der Beweis dafür, daß Israel sich weigere, »die Voraussetzungen für Stabilität und gerechten Frieden zu respektieren«. Ministerpräsident Nawaf Salam verurteilte die »Angriffe gegen die libanesische Souveränität und eine Verletzung der UNO-Sicherheitsratsresolution 1701«. Er verurteilte die »anhaltenden und absichtlichen Angriffe auf Wohngebiete« und forderte die »internationale Gemeinschaft« auf, Druck auf Israel auszuüben, sich vollständig von libanesischem Territorium zurückzuziehen. Parlamentssprecher Nabi Berri rief die Libanesen zur Einheit gegen die israelische Aggression auf. Die Angriffe gälten allen Libanesen und dem ganzen Land, so Berri. Araber und Muslime würden an ihren religiösen Feiertagen angegriffen.

Die libanesische Armee wandte sich am Freitagmorgen mit einer Erklärung an die Öffentlichkeit. Darin wurde die anhaltende Mißachtung der international vereinbarten Waffenruhe durch Israel als »krasse Mißachtung der (Waffenstillstands-)Vereinbarung verurteilt«. Israel attackiere täglich Libanesen und libanesisches Territorium; das könne dazu führen, daß die libanesischen Streitkräfte sich aus Protest dagegen aus dem gemeinsamen Überwachungsmechanismus zurückziehen könnten.

Israel droht mit »großer Gewalt«

Der israelische Kriegsminister Israel Katz erklärte am Freitagmorgen, die Angriffe auf den Libanon würden fortgesetzt, bis die libanesische Regierung die Hisbollah entwaffnet habe. Es werde »keine Ruhe in Beirut geben, keine Ordnung oder Stabilität im Libanon, ohne Sicherheit für den Staat Israel«, so Katz. »Vereinbarungen müssen eingehalten werden und wenn Ihr nicht macht, was von Euch gefordert wird, werden wir weiter mit großer Gewalt (gegen Euch) vorgehen«. Seine Erklärung solle als »direkte Antwort auf den libanesischen Präsidenten Aoun« verstanden werden, so Katz.

Die Vereinbarung der Waffenruhe vom 27. November 2024 wird von Israel seitdem täglich gebrochen. Mehr als 800 Häuser in libanesischen Dörfern entlang der »Blauen Linie« im Südlibanon wurden gesprengt. Mehr als 150 Personen wurden seitdem – zumeist durch Drohnenangriffe – gezielt getötet. Die Angriffe auf den Süden von Beirut waren die vierten ihrer Art und wurden stets damit begründet, man müsse »Waffenproduktionsstätten der Hisbollah« zerstören. Die Hisbollah hat die Angaben der israelischen Seite stets dementiert. Israel hat nicht einen Beweis für seine Behauptungen vorgelegt.

Die von den USA, Frankreich, Israel, UNIFIL und dem Libanon ausgehandelte Waffenstillstandsvereinbarung sieht den Rückzug der Hisbollah und ihrer Waffen aus dem Gebiet zwischen »Blauer Linie« und dem Fluß Litani vor. Ebenso müssen sich die israelischen Truppen aus dem Gebiet zurückziehen, die allerdings noch immer fünf Orte entlang der »Blauen Linie« besetzt halten. Die Sicherheit des Gebiets soll von der libanesische Armee zusammen mit UNIFIL gewährleistet.

Die israelische Armee verhindert allerdings sowohl den Vormarsch der libanesischen Streitkräfte, greift Stellungen der UNO-Friedenstruppe UNIFIL an, verhindert die Rückkehr der Dorfbewohner im Südlibanon und zerstört Gebäude, die von den Bewohnern wiederaufgebaut werden. Israel rechtfertigt sein militärisches Vorgehen und den fortgesetzten Bruch der Waffenruhe stets damit, daß »die Sicherheit des Staates Israel und seiner Bürger« gewährleistet werden müsse. Die Sicherheit des Libanon und der Libanesen kommt im israelischen Weltbild nicht vor.

Zukunft der palästinensischen Flüchtlingslager

Ein weiteres Thema, das den Libanon unter Druck setzt und ebenfalls auf Israel und seine Unterstützer in den USA und der EU zurückzuführen ist, ist die Zukunft der palästinensischen Flüchtlingslager im Libanon. Bei einem Besuch des langjährigen Vorsitzenden der palästinensischen Autonomiebehörde Mahmud Abbas vor wenigen Tagen wurde ausführlich über Pläne und Absichten debattiert, die den Status der Palästinenser im Libanon verändern sollen.

Unbestätigten Berichten zufolge soll ein Gesetz ausgearbeitet worden sein, das biometrische Personalausweise für Palästinenser vorsieht und erlaubt, daß die Bewohner der Lager Baumaterial dorthin bringen dürfen. Gleichzeitig soll sichergestellt werden, daß Palästinenser sich nicht außerhalb der Lager niederlassen können. Im Zentrum der Debatte steht die Entwaffnung der palästinensischen Organisationen, die innerhalb der Camps über gewisse Autonomie verfügen.

Am 16. Juni soll ein Libanesisch-Palästinensisches Komitee mit Verantwortlichen der Palästinensischen Befreiungsorganisation (PLO) in drei Lagern in Beirut beginnen, über einen entsprechenden Mechanismus für die Entwaffnung zu beraten. Sollte die Entwaffnung gelingen, werde sie auf die anderen Lager im Land ausgedehnt, hieß es aus Regierungskreisen.

Im Flüchtlingslager Dbayeh

Wenige Illusionen über die Veränderungen ihrer Lebensbedingungen machen sich die Bewohner des palästinensischen Flüchtlingslagers Dbayeh, das rund 12 Kilometer nördlich von Beirut liegt. Der Weg dorthin wird durch das Luxushotel Al Royal markiert, das vor rund 20 Jahren von einem Sohn des ehemaligen irakischen Präsidenten Saddam Husseins erbaut wurde. Das Hotel habe für die Besiedlung des Gebietes gesorgt, berichtet Elias Groryeb im Gespräch mit der Autorin. Groryeb ist Mitarbeiter der Organisation Joint Christian Comitee (JCC), das 2007 in Dbayeh gegründet wurde. Das Komitee bietet für Kinder und Jugendliche Vorschulunterricht, Hausaufgabenhilfe, Kunstunterricht und Sport an. Seit 2012 wird das Projekt von Misereor unterstützt. Die Unterstützung der katholischen Hilfsorganisation aus Aachen begann mit der Flucht von Hunderttausenden Syrern, die vor dem Krieg in ihrer Heimat in den Libanon geflohen waren.

In den engen Räumen der Organisation werden vormittags 75 syrische Kinder im Vorschulalter unterrichtet. Nachmittags gibt es für 80 libanesische und palästinensische Kinder in zwei Schichten Unterstützung bei den Schulaufgaben. Während die syrischen Kinder im Libanon geboren wurden und außerhalb des Lagers Dbayeh wohnen, stammen die libanesischen und palästinensischen Kinder von Familien, die im Lager wohnen und Nachfahren der 1948er Flüchtlinge aus Palästina sind.

Die Geschichte des Lagers reicht bis zum Beginn der 1950er Jahre zurück, berichtet Herr Elias. Seine Eltern stammen aus Haifa und waren Kinder, als sie 1948 von zionistischen Milizen vertrieben wurden. Er selber wurde 1965 im Lager geboren. Die ersten Zelte seien 1953 an dem damals einsam liegenden Hang errichtet worden, sagt Herr Elias. Das eigentliche Lager seit dann 1956 entstanden. Ursprünglich waren 4.636 Flüchtlinge dort registriert, heute leben nur noch wenig mehr als 2.000 Menschen dort.

Das Land, auf dem das Lager errichtet wurde, gehört bis heute zum Kloster Deir Mar Youssef, das weit über Dbayeh auf der Höhe steht und von einem Park umgeben ist. Die Mönche vermieteten das Land damals an die UNO-Organisation für die Unterstützung palästinensischer Flüchtlinge (UNRWA) vor allem auch deswegen, weil es sich bei den Flüchtlingen um christliche Palästinenser handelte. Der Pachtvertrag wurde auf 99 Jahre abgeschlossen. Die Flüchtlinge kamen aus Bassa und Haifa, manche von ihnen kamen aus den »sieben Dörfern«, die unmittelbar hinter der heutigen »Blauen Linie« lagen und von den zionistischen Milizen zerstört wurden. »Bassa wurde 1948 komplett zerstört«, berichtet Herr Elias. »Die Zionisten haben dort eine Siedlung gebaut, Shlomi.«

Die Bewohner der sieben Dörfer waren Christen und Schiiten, die 1994 durch ein Gesetz die libanesische Staatsangehörigkeit erhielten. So wurden auch 35 Familien in Dbayeh Libanesen, erinnert sich Herr Elias. »Viele von ihnen sind schließlich über ein Umsiedlungsprogramm der UNO ausgewandert, die meisten leben heute in Australien.«

Obwohl das Lager Dbayeh eher einem Dorf als einem der dicht besiedelten palästinensischen Lager im Libanon ähnelt, wäre eine Erleichterung ihrer Lebensbedingungen wünschenswert, sagt Herr Elias. Die Frage der Entwaffnung allerdings stelle sich bei Dbayeh nicht. »Hier trägt niemand Waffen«, sagt er lächelnd. Am Eingang des Ortes stehe ein blaues Haus, in dem sich das UNRWA-Büro befindet. Am Eingangstor hängt ein großes Schild, auf dem ein durchgestrichenes Gewehr abgebildet sei. »Waffen verboten«, bedeute das, sagt Herr Elias. »Das gilt für alle, die hier wohnen.«