Syrien soll als »große islamische Nation« wieder auferstehen
Laut HTS-Führer Ahmed al-Sharaa soll der säkulare syrische Staat der Vergangenheit angehören
Beirut, Mitte März. Die Nachrichten aus Syrien beunruhigen. Die Massaker an syrischen Alawiten im Küstengebiet halten viele Menschen weiter in Atem, während andere ungerührt ihren täglichen Geschäften nachgehen. Die Zahl der Toten ist auch nach zehn Tagen noch unklar, die Zahl der Menschen, die in den Libanon fliehen, steigt täglich.
Mit dem Rücken zur Wand
Bei Telefongesprächen mit Bekannten und Freunden in Damaskus ist zu erfahren, daß viele Menschen das Geschehen in der Küstenregion ausdrücklich begrüßten. »Jahrelang wurden wir getötet und niemand von denen hat sich um uns gekümmert«, habe ein alter Bekannter in der Nachbarschaft gesagt, berichtet »George«, dessen richtiger Name der Autorin bekannt ist. Leider sei das keine Einzelmeinung »unter den Sunniten«, fügt er hinzu. In manchen Moscheen – sogar in Damaskus – seien die Massaker von den Imamen, den Predigern, ausdrücklich begrüßt worden.
Junge Männer seien in Scharen in die Küstengebiete gefahren, um sich den Truppen dort anzuschließen, die tagelang Menschen aus ihren Häusern verjagten, die Häuser plünderten und anzündeten oder aber sich darin niederließen. »Alawiten gelten diesen Leuten als Ungläubige, vergiß das nicht.« Er selber meide inzwischen die Gespräche, Christen stünden ohnehin »mit dem Rücken zur Wand«.
»Mahmud« (Name geändert), einer seiner besten Freunde, habe Fenster und Türen geschlossen und weigere sich, hinauszugehen. Er sei entsetzt und zornig über das was geschieht. »Mahmud« ist ein kritischer Geist, weltoffen, aufmerksam und kümmert sich verantwortungsvoll um die Eltern, die beide weit über 80 Jahre alt sind. Jedes Wochenende fährt er in deren Heimatstadt, um Zeit mit ihnen zu verbringen. Die Mutter ist froh über die Gespräche mit ihm, die anderen Kinder sind im Ausland.
Von der Religion her ist »Mahmud« sunnitischer Muslim, fühlt sich aber seit seiner Jugend in den strengen Regeln wie eingesperrt. Darum habe er auch nie geheiratet, berichtet »George« über seinen Freund. Ehen würden noch immer innerhalb der Religion geschlossen und Partner aus anderen Religionen würden von den Familien nicht akzeptiert. Manche jungen Paare setzten sich darüber hinweg, verließen das Land, um standesamtlich irgendwo in der Welt zu heiraten, wo das möglich sei. Für »Mahmud« sei das aber nie eine Alternative zu seinem Leben in Syrien gewesen, sagt »George«: »Nie würde er seine Eltern allein lassen.«
In Sorge um Syrien
»George«, den die Autorin seit mehr als zehn Jahren kennt, hat im Alltag oder bei Diskussionen nie die verschiedenen Religionen in Syrien politischen Ansichten zugeordnet. Seine Familie hat Freunde in allen Religionen, die säkulare Ordnung, die Syrien nach den militärischen und tödlichen Konflikten mit der sunnitisch-muslimischen Muslim Bruderschaft in den 1880er Jahren verordnet worden war, hat seine Denkweise geprägt.
Um die Vielfalt der Religionen und ethnischen Gruppen in Syrien zu schützen, waren »rote Linien« gezogen worden: Zwei von diesen lauteten, daß nicht über Religion und nicht über ethnische Gruppen gesprochen werden solle. Das bedeutete nicht, daß es zahlreiche interreligiöse Debattenzirkel und Komitees gab. Klöster wie Deir Mar Musa und Deir Mar Elian in der Provinz Homs waren – auch im Ausland – bekannt für internationalen interreligiösen Austausch.
Seit aber die neuen Machthaber von »Hayat Tahrir al-Sham« (HTS) Anfang Dezember vergangenen Jahres in Damaskus einmarschierten, hat sich das geändert. Ihr Anführer, Ahmad al-Sharaa – ehemals Abu Mohammed al Golani – erklärte unmittelbar nach seiner Ankunft in der Ommayyaden Moschee, die »große islamische Nation« Syrien werde »an ihre rechtmäßigen Besitzer« übergeben. Syrien soll demnach ein »islamischer Staat« werden und nicht mehr das säkulare Land sein, das viele Religionen und religiöse Strömungen respektierte.
Die Sunniten fühlten sich nach der Rede von Al Sharaa – offenbar – als die »rechtmäßigen Besitzer« Syriens angesprochen und ermutigt, gegen Andersgläubige vorzugehen.
Beschimpfungen, Drohungen
Elia Samman, langjähriger Politiker der oppositionellen Syrischen Sozialen Nationalistischen Partei (SSNP-Intifadah) stammt aus Homs. Im Telefongespräch mit der Autorin berichtet er von den Zuständen in den Außenbezirken der Stadt, wo Alawiten leben. Seit Anfang des Jahres schon sei es den Alawiten dort schlecht ergangen, sagt er. Sie seien beschimpft und gedemütigt worden, man habe sie als »Tiere« bezeichnet und sie erniedrigt. Bis heute seien die Zugänge zu den Vierteln der Alawiten blockiert, man könne die Viertel nur durch Kontrollstellen betreten. »Sie kontrollieren die Ausweise der Leute, die dort hineingehen«, berichtet Elia Samman.
In den Vierteln kontrollierten HTS-»Sicherheitskräfte«, die sich bemühten höflich zu sein. Doch es gebe auch andere bewaffnete Milizen, die auf Motorrädern Alawiten verfolgen, auch jagen. Sie beleidigten und beschimpften die Menschen und es komme zu Übergriffen. »Die HTS-Führung spricht offiziell von Einzelfällen«, sagt Elia Samman. »Aber jeder weiß, daß diejenigen, die gegen Alawiten in Homs und Umgebung vorgehen, sie auch hinrichten, Milizen von HTS sind.«
HTS ist das Kürzel für »Hayat Tahrir al-Sham«, eine Allianz aus rund 60 zum Teil sehr verschiedenen bewaffneten Gruppen. Ihr Führer ist Ahmed al-Sharaa, der seit 2012 als Abu Mohammed al Golani verschiedene Vorgängerorganisationen gegründet hatte. Darunter die Nusra-Front, die sich als Ableger von Al Qaida in Syrien bezeichnete. Dieses Bündnis löste Al Golani alias Al Sharaa 2016. Nach dem Einzug in Damaskus folgten die 60 bewaffneten Gruppen dem Anführer. Die Ministerien und »Sicherheitskräfte« wurden von ehemaligen Mitgliedern der »Erlösungsregierung« aus Idlib übernommen.
Eine Zeitbombe
An dem Wochenende bevor die Massaker am 6., 7., 8. März in Latakia begannen, sei er mit einem Journalisten des britischen »Economist« durch die Küstenregion gefahren, berichtet Elia Samman. »Wir waren in Latakia, Jablah, Banias und in Tartus und in kleinen Dörfern im Küstengebirge. Es war offensichtlich, daß die Situation dort wie eine Zeitbombe war«, sagt er. »Auf den Menschen lastete ein unglaublicher Druck. Es waren massenweise Menschen entlassen worden, sie waren ohne Arbeit, hatten kein Geld, die Armut war mit Händen zu greifen.«
Die Leute berichteten von Beleidigungen, Drohungen und religiös gefärbten Beschimpfungen, »aber es gab keine Schutzvorkehrungen«. Sogenannte »religiöse Beschimpfungen« bedeuten, daß die Menschen als »Hunde« oder »Schweine« beschimpft werden. In zahlreichen Videoaufnahmen war zu sehen, daß Männer gezwungen wurden, wie Hunde auf Knien und Händen zu kriechen und zu bellen, bevor sie erschossen wurden.
Seit den Massakern versuche Al Sharaa die Lage unter Kontrolle zu bekommen, so Elia Samman. Er bemühe sich um Versöhnung und habe für den Vorsitz der Untersuchungskommission und eines »Versöhnungskomitees« zwei Alawiten bestimmt. Es sei aber völlig unklar, ob es ihm gelingen werde, die Dschihadisten zu stoppen und einzubinden. Besonders betreffe das islamistische Gotteskrieger aus dem Norden, die für die Bluttaten verantwortlich gemacht werden. Diese Leute seien aus Zentralasien oder China (Uiguren) nach Syrien geschleust worden und hätten während des Krieges ähnliche Massaker und Verwüstungen angerichtet. Hinzu kommen extreme Dschihadisten aus Nordafrika, von denen einige über »soziale Medien« zu den Massakern aufgerufen hätten.
Flüssiggas aus Katar
Das größte Problem für Al-Sharaa sei derzeit, einen wirtschaftlichen Aufschwung zu liefern, heißt es übereinstimmend in zahlreichen Analysen. Die Aufhebung der von der EU-verhängten einseitigen wirtschaftlichen Sanktionen sei für ihn zentral. Katar habe von den USA die Erlaubnis erhalten, über Jordanien Flüssiggas nach Syrien zu liefern.
Geliefert wird durch die arabische Gaspipeline, die von Ägypten über Jordanien, Syrien in den Libanon geht. Vor Jahren hatten diese vier Länder versucht, Gas aus Ägypten in den Libanon zu liefern, um die dort den anhaltenden Strommangel zu mildern. Da Gaslieferungen durch diese Pipeline über Syrien erfolgt wären, konnten sie von den USA mit Sanktionen (»Cäsar-Gesetz«) blockiert werden. Die beteiligten Länder, außer Syrien, bemühten sich daher um eine Zusage der USA, die Gaslieferungen nicht zu sanktionieren. Weil man in Washington aber zweideutig blieb, wurde die Initiative schließlich gestoppt. Den beteiligten Staaten war das Risiko zu groß, selber sanktioniert zu werden.
Nun soll durch die Arabische Gaspipeline also katarisches Flüssiggas von Jordanien nach Syrien gepumpt werden. Die Menge ist gering, doch immerhin könnte die tägliche Bereitstellung von Strom von 1-2 Stunden auf 3-4 Stunden verlängert werden. Um Industrieanlagen wieder in Betrieb zu nehmen, reicht das allerdings lange nicht.
Zuflucht Libanon
Mehr als 20.000 Menschen sind seit Anfang März in den Libanon geflohen. Nach Angaben der UNO-Organisation für Flüchtlinge (UNHCR) kamen seit den Massakern im syrischen Küstengebiet 21.637 Schutzsuchende in den Zedernstaat. Es handelt sich um 4.493 syrische und 393 libanesische Familien, die im Norden des Landes, in den Provinzen Akkar und Hermel, entlang der Grenze zu Syrien untergebracht sind.
Viele Menschen kommen nach Angaben des UNHCR weiterhin täglich aus den Provinzen Tartus, Latakieh, Homs und Hama in den Libanon, es handle sich um eine Zahl im »unteren dreistelligen Bereich«, heißt es in einer Erklärung der Organisation am 21.3.2025. Viele der Schutzsuchenden zögen weiter nach Jabal Mohsen bei Tripoli. Das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) spricht von 1.447 Familien, die sich dort niedergelassen haben. Allein in der Provinz Akkar leben den Angaben zufolge 3.126 Familien (14.108 Personen) und seien in fünf Orten untergebracht.
Zwei der Orte, Massaoudiye und Hokr ed-Dahri liegen nördlich von Akkar Halba, einer Kleinstadt, die etwa 15 Kilometer von der syrischen Grenze entfernt liegt. Akkar ist eine arme, landwirtschaftlich geprägte Provinz. Viele Menschen sind Bauern und Schäfer, der Boden ist fruchtbar, die Nähe zu den hohen libanesischen Bergen, die selbst Mitte März noch mit Schnee bedeckt sind, garantieren dem Gebiet reichlich Wasser. Seit Jahrzehnten leben in den Dörfern von Akkar syrische Landarbeiter, die aus dem Gebiet von Salamiyeh kommen. Seit Beginn des Syrienkrieges (2011) sind noch tausende syrische Flüchtlinge hinzugekommen, die von der UNO – inzwischen mit monatlichen Geldzahlungen – versorgt werden.
Mohamed Ayash ist Bürgermeister von Massaoudiye und begleitet die Autorin in das Dorf Hokr ed-Dahri. Hier fließt der Große Fluß, der Nahr El Kebir, der die syrisch-libanesische Grenze markiert. Die Menschen kämen weiter täglich über den Fluß, erlärt der Bürgermeister, der Muchtar. 650 Familien hätten sie in den vergangenen zehn Tagen registriert. In den ersten Tagen sei auf der syrischen Seite manchmal auf die Flüchtenden geschossen worden. Jetzt sei alles ruhig.
Die grüne Grenze zur Sicherheit
Die schmale Straße schlängelt sich durch Felder, mit Plastikplanen abgedeckte Tomatenbeete und Olivenhaine. Dazwischen gut befestigte Zeltanlagen, in denen die syrischen Landarbeiter wohnen, erklärt Mohamed Ayash. Eine Frau erfrischt sich an Wasser, das wie eine Dusche aus einem aufgerichteten Rohr herunterfällt. Das kräftig fließende Naß sammelt sich zu einem kleinen See und fließt dann durch einen schmalen Kanal auf die Felder.
Kurz vor einer alten Brücke biegt die Straße ab und führt in den Ort Hokr ed-Dahri. Normalerweise wäre die Grenze über die Brücke leicht zu überqueren, doch ein Gitter mit Stacheldraht blockiert den freien Durchgang. In Hokr ed-Dahri herrscht reges Treiben. Menschen laufen hin und her, Gepäck wird in Autos verstaut, ein Straßenhändler bietet Obst, Wasser und Süßigkeiten zum Verkauf. Die Menschen wirken müde, fotografiert werden möchte niemand.
Zu Fuß geht es bis zu der schmalen Furt, durch die die Menschen aus Syrien herüberkommen. Frauen werden getragen, die Männer und Kinder krempeln die Hosenbeine hoch, ziehen Schuhe und Strümpfe aus und waten durch das seichte Wasser. Es ist eine grüne Grenze, im wahrsten Sinne des Wortes. Vom nördlichen Ufer erstreckt sich fruchtbares Ackerland nach Syrien hinein. Doch die Ruhe trügt.