Ausland05. März 2022

Ein Schriftsteller des Jahrhunderts

Zum 100. Geburtstag von Pier Paolo Pasolini

von Gerhard Feldbauer

Die Begegnungen mit Pier Paolo Pasolini gehören zu den unvergeßlichen meiner Zeit als Auslandskorrespondent (1973-1979) in Italien. Er war eine faszinierende Persönlichkeit. Sein hageres Gesicht mit den asketischen Zügen unter dem schwarzen Haar und dem durchdringenden Blick prägte sich unauslöschlich ein. Seine politischen Gedanken, die er streitbar und manchmal mit einem Anflug von Besessenheit darlegte, waren von einer Scharfsinnigkeit, die kaum einer seiner Genossen im PCI und schon gar nicht in der Führung der Italienischen Kommunistischen Partei aufzuweisen hatte. Das bürgerliche Staatsmodell, zu dem sich der PCI im »Historischen Kompromiß« bekannte, sah er »nur als eine Scheindemokratie«, und in der gescheiterten Studentenrevolte von 1968 »ein kurzes bürgerliches Strohfeuer«.

Die letzte Begegnung mit ihm hatte ich wenige Monate vor seinem Tod im November 1975. Natürlich kannte ich seine Werke als Schriftsteller und Regisseur. Aber ich war erstaunt, wie fundiert er sich zu den 1973/74 bekannt gewordenen neuen faschistischen Putschversuchen äußerte. »Ich weiß die Namen der Verantwortlichen für das, was man Putsch nennt«, hatte ihn der Mailänder »Corriere della Sera« am 14. November 1974 zitiert. Er charakterisierte das als »ein System der Herrschaftssicherung« und verwies auf die Unterstützung des US-amerikanischen Geheimdienstes CIA und die der griechischen Obristen und der Mafia, und vergaß bei seiner Aufzählung auch den 11. September 1973 mit dem Putsch in Chile nicht.

In den 50er Jahren wurde Pasolini als Schriftsteller mit seinen Büchern »Ragazzi di Vita« (1955) und »Una Vita violenta« (1959) sowie danach durch seine ersten Filme »Accatone – Wer nie sein Brot mit Tränen aß« (1961) und »Mamma Roma« (1962 mit Anna Magnani) als Regisseur rasch auch international bekannt. Er schrieb Gedichte und Essays in bildhafter, lebendiger Sprache, verfaßte Streitschriften (Freibeuterbriefe, Lutherbriefe, Paulusbriefe) die seine kommunistische Gesinnung bezeugten, aber auch seine Sicht auf religiöse Gefühle ausdrückten, was auch seine verfilmte Matthäus-Evangelisation zeigte. Pasolini hat seine Homosexualität nie verheimlicht.

In der Lyrik sind »Gramscis Asche« (1957) und »Die Nachtigall der katholischen Kirche« (1958) zu nennen, von den Romanen »Der Traum von einer Sache« (1962) und »Ali mit den blauen Augen« (1965). In der Bundesrepublik Deutschland erschienen viele seiner Werke bei Wagenbach.

In seinem letzten Film »Salò oder die 120 Tage von Sodom« gestaltete er nach Marquis de Sade fiktiv die grausamen Zustände in einem Gefangenenlager in Salò, dem Sitz des Mussolini-Regimes am Gardasee unter der Okkupation der Hitlerwehrmacht. Den heftig umstrittenen Film prägten Resignation und Lebensekel.

In der Nacht zum 2. November 1975 wurde Pasolini ermordet. Abends war er mit einem Freund zum Essen verabredet, seine Leiche wurde allerdings am Strand von Ostia bei Rom gefunden. Die kriminalistischen Untersuchungen ergaben, daß Pasolini mehrfach mit seinem eigenen Wagen überfahren wurde, es wurden allerdings keine Reifenspuren an der Leiche festgestellt. Vielmehr wiesen die Verletzungen auf einen stumpfen Metallgegenstand als Waffe hin. Viele Tatortspuren wurden durch unsachgemäße Ermittlungsarbeit vernichtet.

1979 wurde der zum Zeitpunkt des Mordes siebzehnjährige Pino Pelosi wegen dieses Mordes zu neun Jahren und sieben Monaten verurteilt. Er gestand die Tat und verbüßte seine Strafe bis 1982.

Der Mord an Pasolini ist bis heute nicht abschließend aufgeklärt. Pelosi sagte 2005 im Widerspruch zu seinem anfänglichen Geständnis, Pasolini auf Anweisung verschiedener, nicht identifizierter Auftraggeber umgebracht zu haben. Er und seine Familie seien damals mit dem Tode bedroht worden für den Fall, daß er die wahren Auftraggeber bei dem Prozeß belaste. Ebenfalls 2005 widerrief Pelosi sein Geständnis und erklärte, Unbekannte hätten Pasolini getötet.

Viele Verdächtigungen und Mutmaßungen wurden geäußert, keine einzige ließ sich beweisen. Freunde und Mitglieder der Familie von Pier Paolo Pasolini äußerten in den folgenden Jahren den Verdacht, daß er Opfer von Rechtsradikalen geworden sei. Pasolini sei bei der Abfassung des unvollendeten Romans »Petrolio« auf die kriminellen Machenschaften der staatlichen Erdölgesellschaft ENI gestoßen und deshalb umgebracht worden. Ein Jahr vor seinem Tod hatte Pasolini in Zeitungsartikeln öffentlich gemacht, daß eine Verbindung zwischen der italienischen Politik und dem organisierten Verbrechen mißliebige Kommunisten durch kriminelle Handlanger ermorden lassen würde.

Der Regisseur Marco Tullio Giordana stellte in seinem dokumentarischen Spielfilm »Pasolini, ein italienisches Verbrechen« – 1996 auf dem Festival in Toronto uraufgeführt – die Tat als einen politisch motivierten Mord dar. Als 30 Jahre nach seinem Tod die Ermittlungen neu aufgenommen wurden, schrieb auch die »Neue Zürcher Zeitung« am 12. November 2005, »Faschismus, Mafia und Geheimdienste« würden als »mögliche Täter identifiziert«. Eine späte Erkenntnis, denn schon in den 70er Jahren war bekannt geworden, daß der Name Pasolinis zusammen mit anderen linken Schriftstellern, darunter Alberto Moravia, auf den Mordlisten der faschistischen Putschisten stand.

Im PCI stand man Pasolini wegen seiner kritischen Haltung zum »Compromesso stòrico« mit der Democrazia Cristiana, aber auch wegen seiner Homosexualität distanziert gegenüber, während er trotz seiner Vorbehalte immer zur Partei stand. Diese Hinwendung war der Liebe eines Kindes vergleichbar, das sich nach Zuneigung sehnt. Im Leben oft nicht erwidert, wurde sie ihm im Tode zuteil. Unter den Trauergästen, die zu Tausenden zu seinem Begräbnis kamen, befanden sich viele Parteimitglieder, an ihrer Spitze Enrico Berlinguer. Alberto Moravia sagte in seiner Totenrede: »Jedes Jahrhundert werden nur drei oder vier Dichter geboren, und wir haben einen Dichter verloren.«