Ausland01. Dezember 2023

Notlage gesucht

Um den Haushalt abzusichern, will die deutsche Bundesregierung »Schuldenbremse« und Grundgesetz umgehen

von Elias Conte

Chaostage im Berliner Regierungsviertel. Nachdem das Bundesverfassungsgericht am 15. November den Finanzjongleuren der Koalition einen Strich durch die Rechnung gemacht hatte, ließ die Videobotschaft des Kanzlers nicht lange auf sich warten: »All unsere Ziele sind und bleiben richtig.« Ein Klacks, es geht schließlich nur darum, illegale Geldtransfers, Schattenhaushalte und die geplatzten Haushalte für 2023 und 2024 wieder geradezurücken.

Nach der Devise »Not macht erfinderisch« hatte die durch latenten Fachkräftemangel bekannt gewordene »Ampel«-Koalition am 21. November Sachverständige zur Anhörung geladen. Im Mittelpunkt der Ideenfindung stand der Appell an die Fantasie von Juristen und Wirtschaftsweisen, Gründe für eine Aussetzung der Schuldenbremse zu liefern. Dumm, daß Artikel 109 Absatz 3 des Grundgesetzes kein »Wünsch dir was« zuläßt. Es müssen »außergewöhnliche Notsituationen, die sich der Kontrolle des Staates entziehen und die staatliche Finanzlage erheblich beeinträchtigen«, vorliegen. Viel an Ideen kam da nicht zusammen.

Mehr als windig ist der Verweis auf die Rezession, in der sich die deutsche Wirtschaft befindet. Krise, Inflation und gestiegene Energiepreise sind keine Erscheinungen, die völlig überraschend erst 2023 über Deutschland hereinbrachen. Die Corona-Notlage des Jahres 2021 läßt sich nicht nach 2023, geschweige denn 2024 verlängern. Auch der Klimawandel taugt nicht zur Notlage, als »langfristiges Phänomen« scheidet er ebenfalls aus.

Die 20,86 Milliarden Euro Waffen- und Finanzhilfe der Bundesrepublik an die Ukraine sind, wie jeder weiß, freiwillig erfolgt, entziehen sich also gerade nicht »der Kontrolle des Staates«. Gleiches gilt für das Eigentor an finanziellen Schäden, die die Regierung durch ihre Beteiligung an den EU-Sanktionspaketen gegen Rußland produziert hat. Die Mär, der Anstieg der Energiepreise gehe auf den Ukraine-Krieg zurück, glaubt man eh nur in der Regierungskoalition, die überteuertes Flüssiggas aus den USA bezieht und indische Raffinerieprodukte aus russischem Öl auf dem Weltmarkt kauft, preisgünstiges russisches Gas wegen der »werteorientierten« Außenpolitik aber ausschlägt.

Israels Krieg im Gaza? Von seiner Aktualität her zeitlich ein idealer Ansatz, aber wo ist die Notlage? Die israelische Marine ist in den vergangenen Jahren vor allem mit Korvetten der SAAR-6-Klasse ausgerüstet worden, das lag lange vor dem 7. Oktober 2023. Die von Bundespräsident Steinmeier diese Woche in Israel zugesagte Finanzhilfe für israelische Kibbuzim bewegt sich im unteren zweistelligen Millionenbereich, bringt für eine Notlage folglich auch nichts. Außerdem ist die Auszahlung von mehr als 200 Millionen Euro humanitäre Hilfe für Palästina von Berlin gestoppt worden. Die »Staatsräson« hat eher noch Geld gespart.

Der Versuch des grünen Wirtschaftsministers Robert Habeck, das aktuelle Haushaltsdesaster dem Verfassungsgericht und der klagenden CDU in die Schuhe zu schieben, sorgt eher für Heiterkeit. Keine Chance für diese Gedankenpirouette, denn »schließlich wurde die Notsituation durch einen Verfassungsbruch selbst verschuldet«, stellte der Sachverständige Dirk Meyer von der Universität Hamburg klar. Die Ignoranz gegenüber haushaltsrechtlichen Regeln mit Verfassungsrang und eigener Selbstherrlichkeit bei der Durchführung einer mit Vorsatz eingefädelten Verschiebung von Haushaltsmitteln ist auch daraus ersichtlich, daß noch nicht einmal ein »Plan B« vorbereitet war.

Völlig unbeeindruckt von den Warnungen der Sachverständigen hat das Kabinett am Montag per Eilverfahren den Nachtragshaushalt mit einer Neuverschuldung von insgesamt 72,2 Milliarden Euro durchgewunken – das durch die Schuldenbremse gesetzte Limit ist damit klar gerissen. Bereits am Sonntagabend gewährte SPD-Fraktionschef Rolf Mützenich in der ARD-Sendung »Bericht aus Berlin« Einblick in die tiefschürfenden Überlegungen, die im Bundeskabinett angestellt werden: »Ich glaube nicht, daß wir in normalen Zeiten leben. Deswegen ist es auch kein normaler Haushalt.«