Massiver Polizeieinsatz gegen Unruhen in Frankreich
Kritik am schlechten Verhältnis der Polizei zu den Bürgern
Mit dem Wochenende war mit einer Verschärfung der seit dem Tod des 17-jährigen Nahel M. anhaltenden landesweiten Unruhen zu rechnen. Aus diesem Grund hat Präsident Emmanuel Macron auch seinen dreitägigen Staatsbesuch in Deutschland abgesagt, der Sonntagabend beginnen sollte. Tatsächlich war bereits in der Nacht zum Sonntag ein Rückgang zu beobachten. Es wurden 719 Plünderer und Brandstifter verhaftet, während es in der Nacht zuvor mehr als 1.300 waren. Die Zahl der Brandstiftungen und Plünderungen betrug immerhin noch ein Viertel jener der vorangegangenen Nacht.
Die schwersten Ausschreitungen gab es in Marseille, Lyon, Straßburg und Nizza. Dagegen blieb es in der Pariser Region deutlich ruhiger als in den vorangegangenen Nächten. In Paris hat die Polizei durch massive Präsenz auf den Champs Élysées, den Großen Boulevards und anderen besonders gefährdeten Orten, wo es in den Tagen zuvor zu massiven Plünderungen und Brandstiftungen gekommen war, ein neues Aufflammen der Unruhen verhindert.
Das Innenministerium hatte 45.000 Polizisten und Gendarmen eingesetzt, davon 7.000 allein in der Pariser Region. Hier und in zahlreichen Städten des Landes wurde der öffentliche Personennahverkehr über Nacht eingestellt. Vielerorts haben die Bürgermeister eine nächtliche Ausgangssperre für Jugendliche oder sogar für alle Bürger verhängt.
Spekulationen
über Motive
Beobachter sind sich nicht einig darüber, welches die Gründe für den rückläufigen Trend der Unruhen sind. Ist es ein Zeichen von Überdruß bei den Beteiligten oder doch ein Ergebnis des massiven Polizeieinsatzes, wie es Innenminister Gérald Darmanin glaubt? Hatten die Appelle von Bürgermeistern und örtlichen Jugendbetreuern an die Eltern, ihre Kinder zu Hause zu behalten, Erfolg? Immerhin waren ein Drittel der Verhafteten jünger als 18 Jahre und viele sogar erst 12. Haben die sozialen Medien schneller Aufrufe zu Zusammenrottungen getilgt oder wirkten eher die Schnellverfahren gegen in flagranti verhaftete Plünderer und Brandstifter? Sicher hat alles zusammen letztlich Wirkung gezeigt. Es ist allerdings auch nicht ganz auszuschließen, daß die Beruhigung nur zeitweiligen Charakter hat und es zu einem neuen Aufflammen der Unruhen kommen kann.
Für eine tiefgreifende Analyse der Ereignisse oder gar Konsequenzen für die Zukunft, so sind sich alle Beobachter einig, ist es noch zu früh.
Klar ist jedoch schon, daß die Ehrung von Nahel M. und die politischen Forderungen schnell zu einem Auftrieb der Plünderungen und des Vandalismus ausgeartet sind, der durch Spekulationen und Aufrufe in den sozialen Netzwerken angeheizt wurde. Doch dadurch verlor die anfängliche Bewegung der Wut schnell ihre Unterstützung unter den Bewohnern der Arbeiterviertel. Dies umso mehr, als hier vielen Menschen durch Brandstiftung das Auto zerstört wurde, auf das sie angewiesen sind, um zur Arbeit zu kommen.
Erinnerung an 2005
In Nanterre bei Paris hat am Samstagnachmittag eine große Menschenmenge ruhig und andächtig zunächst in der großen Ibn-Badis-Moschee und dann auf dem muslimischen Grabfeld des Friedhofs Mont-Valérien an der Beisetzung von Nahel M. teilgenommen. Politiker und die Medien waren ausdrücklich aufgefordert worden, der Beisetzung fernzubleiben. So war das auch schon am Vortag beim Gedenkmarsch durch die Straßen von Nanterre, wo es am Rande zu einigen tätlichen Angriffen auf Journalisten kam.
Am Abend saßen im menschenleeren Zentrum von Nanterre auf der Terrasse des einzigen geöffneten Bistros einige Fahrer des nahen Busdepots zusammen. Sie gehören alle zur Nachtschicht, sind jedoch vorübergehend auf Kurzarbeit gesetzt, weil der Busverkehr ab 21 Uhr eingestellt wurde. Sie erinnern sich noch an die Unruhen, die 2005 drei Wochen anhielten und die durch den Tod von zwei Jugendlichen, Zyed Benna und Bouna Traoré, ausgelöst wurden, die auf der Flucht vor der Polizei waren. »Es war aber nicht dasselbe«, meint Farid. »Damals wurden keine Geschäfte gestürmt und geplündert oder Rathäuser, Schulen und öffentliche Einrichtungen in Brand gesteckt.«
Er versteht aber auch die Jugendlichen von heute. »Sie werden tagtäglich unzählige Male durch die Polizei willkürlich kontrolliert und schikaniert.« Mindestens die Hälfte aller Polizisten sind Rassisten, ist er überzeugt. »Dieser Beruf zieht rechtsextreme Leute an.« Sein Kollege Adil meint: »Dieses Brandstiften und Plündern machen viele nur aus Spaß. Es ein Wettbewerb über die Netzwerke. Würde morgen das 4G-Netz abgeschaltet, gäbe es keine Aufstände mehr.« Slimane, der früher in Nanterre Jugendhelfer war, stimmt ihm zu: »2005 haben sie es für Zyed Benna und Bouna Traoré getan. Heute ist es anders. Der junge Nahel ist ihnen egal. Sie sind hier, um ihren Frust abzulassen und zu plündern«.