Ausland11. Juni 2024

Macrons »Flucht nach vorn«

Nach der Auflösung des Parlaments rufen PCF und linke Kräfte zur Bildung einer »Volksfront« auf

von Ralf Klingsieck, Paris

Nach der Auflösung des Parlaments rufen PCF und linke Kräfte zur Bildung einer »Volksfront« auf

Daß die Wahl der Abgeordneten zu EU-Parlament am Sonntag einen massiven Sieg des rechtsextremen Rassemblement National (RN) bringen würde, war klar abzusehen, aber die Entscheidung von Präsident Emmanuel Macron, als Schlußfolgerung daraus das Parlament aufzulösen und Neuwahlen anzuberaumen, war für alle, selbst für seine engsten Vertrauten, eine Überraschung und nicht selten sogar ein Schock.

»Ich gebe Ihnen noch einmal Gelegenheit, ihre Stimme einzusetzen, um Klarheit zu schaffen«, erklärte Macron an die Adresse der Wähler gewandt eine Stunde nach Schließung der letzten Wahllokale. »Ich habe Ihre Botschaft gehört und lasse sie nicht ohne Antwort«, sagte er in einer kurzen Fernsehansprache. »Nach diesem Tag könnte ich nicht so tun, als sei nichts geschehen.« Konsequenterweise gebe er den Wählern Gelegenheit, sich noch einmal klar und deutlich zu äußern. Darum löse er gemäß Artikel 12 der Verfassung die Nationalversammlung auf und beraume für den 30. Juni und den 7. Juli Neuwahlen an.

Damit zog Macron Konsequenzen aus dem Debakel seines Lagers und dem großen Erfolg des rechtsextremen Rassemblement National. Das hatte mit 31,5 Prozent der abgegebenen Stimmen eine Steigerung gegenüber der EU-Wahl von 2019 um acht Prozentpunkte erreicht und damit das beste Wahlergebnis seiner Geschichte verbucht. Zählt man die Zahlen der Bewegung Reconquête von Eric Zemour und der Le Pen-Nichte Marion Maréchal sowie einiger gleichgesinnter Splitterparteien hinzu, die Bündnispartner von RN sind, so können sich die Rechtsextremen in Frankreich auf nahezu 40 Prozent der Franzosen stützten, die an der Wahl teilgenommen haben.

Dagegen erreichte die Regierungspartei Renaissance, die aus der 2016 von Macron gegründeten Bewegung En marche hervorgegangen ist, nur 15,2 Prozent und verlor damit 22 Prozentpunkte gegenüber 2019. Die Sozialisten verzeichneten 14 Prozent und verdoppelten so die Zahl ihrer Stimmen im Vergleich zu 2019. Es folgten mit 8,7 Prozent die linke Bewegung La France insoumise, mit 5,5 Prozent die rechtsbürgerliche Oppositionspartei der Repubikaner, mit 5,2 Prozent die Grünen und mit 2,5 Prozent die Kommunisten. Die Wahlbeteiligung lag mit 51 Prozent erstmals seit 1994 wieder bei etwas mehr als der Hälfte der Wahlberechtigten.

Seit Wochen im Wahlkampf und noch am Sonntagabend kurz nach Bekanntgabe der ersten Hochrechnungen hatte der Parteivorsitzende und Spitzenkandidat des Rassemblement National, Jordan Bardella, von Emmanuel Macron Neuwahlen zum Parlament gefordert. »Die beispiellose Diskrepanz zwischen den Stimmabgaben für die Regierungsmehrheit und für uns als der stärksten Oppositionspartei ist ein klares Mißtrauensvotum gegen den Präsidenten und seine Regierung«, sagte Bardella. Als kurz darauf Macron seine Entscheidung für Neuwahlen bekanntgab, begrüßte die RN-Fraktionsvorsitzende und Präsidentschaftskandidatin Marine Le Pen dies als »logischen Schritt im Geiste der Verfassung der Fünften Republik«, und sie versicherte: »Wir sind bereit, die Macht auszuüben.«

Das wird allerdings von vielen Beobachtern der politischen Szene angezweifelt, und darauf konzentriert sich in den ersten Stunden nach der Wahl die Debatte um die Gründe, die den Präsidenten bewogen haben, Neuwahlen anzuberaumen.

Die einen vermuten, daß Emmanuel Macron darauf vertraut, daß die Aussicht, die Rechtsextremen schon in Kürze an den Hebeln der politischen Macht zu sehen, »die republikanische Front« gegen Rechtsaußen über einstige Parteiengrenzen hinweg neu beleben kann.

Andere werten ein solches Kalkül als »höchst riskant« und geben zu bedenken, daß der Wahlerfolg für RN vor allem als »Denkzettel« der Franzosen zu werten sei, die einst große Hoffnungen in die von Macron versprochene »neue Politik« gesetzt hatten und die durch den dann tatsächlich verfolgten neoliberalen Kurs zutiefst enttäuscht wurden.

Andere Bobachter sehen in Macrons Entscheidung den »richtigen und einzig möglichen Ausweg«, um eine Situation abwenden, in der das Land »unregierbar« würde. Der Abgeordnete François Ruffin von La France insoumise bezichtigt Macron, »mit dem Feuer zu spielen«. Andere Kritiker bleiben diplomatischer und warnen davor, »die Demokratie und die Institutionen in Gefahr zu bringen«.

Der Politikwissenschaftler Eugène Demoulin analysiert, daß Macron »die Flucht nach vorn« angetreten hat, denn sollten die Rechtsextremen tatsächlich jetzt an die Regierung gelangen, so könnten sich die Franzosen in den Jahren bis zur nächsten Präsidentschafts- und Parlamentswahl 2027 davon überzeugen, daß die RN-Politiker »nur große Worte schwingen und kein bißchen erfolgreicher als ihre Vorgänger regieren«. Das könnte dann zur Folge haben, daß 2027 weder eine rechtsextreme Präsidentin gewählt wird noch diese sich auf eine durch ihre Bewegung gestellte Regierung stützen kann.

Wie die bereits in drei Wochen stattfindende Wahl ausfällt und ob das Rassemblment Nationale dabei überhaupt in die Nähe der politischen Macht kommt, wird stark von den linken Parteien abhängen, sind diese sich bewußt.

Da sich die 2022 gebildete linke Parteienallianz NUPES »überlebt« hat, wie der Präsident der Französischen Kommunistischen Partei (PCF), Fabien Roussel, am Wahlabend feststellte, ruft er zusammen mit dem Parteivorsitzenden der Sozialisten, Olivier Faure, und dem LFI-Abgeordneten François Ruffin dazu auf, eine »Volksfront« aller linken Kräfte zu bilden. Die Bewegung La France insoumise hat die anderen linken Parteien, Bewegungen und Organisationen für Montagnachmittag zu einem ersten Treffen zu diesem Thema eingeladen.