Ausland24. November 2021

»Das ist unser Hinterhof!«

Beobachter sehen Einfluß der EU in den Nicht-EU-Ländern Südosteuropas schwinden. EU-Denkfabrik schlägt Sanktionen wegen »Kleptokratie« gegen die dortigen Länder vor.

von German Foreign Policy

Die EU soll ihr Sanktionsregime um den Tatbestand »Kleptokratie« erweitern und sich mit seiner Anwendung in den Nicht-EU-Ländern Südosteuropas größeren Einfluß sichern. Dies schlägt der European Council on Foreign Relations (ECFR) vor, eine Denkfabrik mit Hauptsitz in Berlin. Hintergrund ist, daß die EU in Südosteuropa inzwischen an Einfluß verliert.

So stufen Beobachter den kürzlich erfolgten Rücktritt von Nordmazedoniens Ministerpräsident Zoran Zaev als schweren Rückschlag für Brüssel ein: Zaev hatte erhebliche Zugeständnisse gemacht, um eine Aufnahme von EU-Beitrittsverhandlungen zu erreichen, war aber von der EU fallengelassen worden. Weitere Rückschläge diagnostizieren Beobachter in Bosnien-Herzegowina und in Serbien, wo Umfragen in der Bevölkerung eine überwältigende Zustimmung zu einer engen Kooperation mit Rußland und China feststellen.

Im Stich gelassen

Als schwerer Rückschlag für die EU in den Nicht-EU-Ländern Südosteuropas wird zunächst der Rücktritt des nordmazedonischen Regierungschefs Zoran Zaev eingestuft. Zaev hatte im Jahr 2019 die Umbenennung seines Landes in Nordmazedonien durchgesetzt – gegen massiven Widerstand und mit Hilfe zumindest dubioser politischer Machenschaften. Er begründete die Umbenennung damals mit dem Bemühen, den Beginn von EU-Beitrittsverhandlungen zu erreichen. Brüssel hat dies nicht honoriert; die erhofften Beitrittsverhandlungen haben bis heute nicht begonnen.

Beobachter führen die heftige Niederlage von Zaevs Partei bei den kürzlich abgehaltenen Kommunalwahlen in erheblichem Maß darauf zurück, daß er von der EU im Stich gelassen wurde, also mit seinem politischen Hauptanliegen scheiterte. Zaevs Rücktritt nach der Wahlniederlage seiner Partei gilt als folgenreiches Signal. So werde nicht nur »jeder künftige Regierungschef in Skopje doppelt und dreifach überlegen, ob es sinnvoll ist, auf Forderungen und Reformerwartungen einer EU zu hören, deren Mitgliedsversprechen hohl geworden ist«, urteilt der Korrespondent der Michael Martens in der »Frankfurter Allgemeinen Zeitung« vom 2.11.2021. Zaev könne »auf lange Zeit der letzte Regierungschef der Region gewesen sein, der bereit war«, für die EU »maßgebliche politische Risiken auf sich zu nehmen«.

Nicht demokratisch gewählt

Rückschläge muß die EU auch in Bosnien-Herzegowina hinnehmen. Dort sind mehr als ein Vierteljahrhundert nach dem Ende des Krieges immer noch EU-Truppen stationiert (»Operation Althea«); immer noch residiert in Sarajevo der mit umfangreichen Vollmachten ausgestattete Hohe Repräsentant für Bosnien und Herzegowina – seit dem 1. August der deutsche CSU-Politiker Christian Schmidt. Im UNO-Sicherheitsrat ist Rußland immer weniger bereit, dem Mandat für »Althea« zuzustimmen, und begründet dies insbesondere damit, es gehe nicht an, Bosnien-Herzegowina auf Dauer von einem nicht demokratisch gewählten Repräsentanten auswärtiger Mächte kontrollieren zu lassen.

Die politischen und wirtschaftlichen Verhältnisse sind desolat; Korruption und Armut lassen die Unzufriedenheit wachsen. Vor allem die bosnischen Serben stellen den Status Quo zunehmend in Frage; Beobachter warnen längst vor Abspaltungsbestrebungen. In dieser Situation hatte Schmidts Amtsvorgänger Valentin Inzko im Juli 2021 seine Vollmachten genutzt, um ein Gesetz zu oktroyieren, das »die Leugnung des Massakers von Srebrenica« unter Strafe stellt. Damit hat er die Spannungen weiter angeheizt. Milorad Dodik, der wohl einflußreichste Politiker der bosnischen Serben, kündigte kürzlich die Rückverlagerung von Kompetenzen aus Sarajevo in die Republika Srpska an. Beobachter fürchten eine Eskalation.

Serbiens Verbündete

Weitere Mißerfolge werden aus Serbien gemeldet. Dort hat die Unterstützung, die Rußland und China im Kampf gegen die Covid-19-Pandemie geleistet haben – insbesondere mit der Lieferung von Impfstoffen –, dazu geführt, daß die positive Bewertung beider Länder noch weiter gestiegen ist. So gaben im Sommer in einer Umfrage des European Council on Foreign Relations (ECFR) – Hintergrund waren teilweise die Erfahrungen mit dem jeweiligen Kampf gegen die Pandemie – 72 Prozent der befragten Serben an, das politische System in China funktioniere »gut« oder sogar »sehr gut«. Mit Blick auf Rußland äußerten dies 64 Prozent, mit Blick auf die EU hingegen nur 46, mit Blick auf die USA nur 36 Prozent.

Als wirklichen »Verbündeten« ihres Landes betrachteten 54 Prozent Rußland und 47 Prozent China, hingegen nur elf Prozent die EU und nur sechs Prozent die USA. Zählt man diejenigen hinzu, die Rußland und China als einen »notwendigen Partner« einstuften, dann ergeben sich überwältigende Mehrheiten von 95 bzw. 91 Prozent.

»Antiwestliche Narrative«

Mit Sorge beobachtet der ECFR, eine EU-orientierte Denkfabrik mit Hauptsitz in Berlin, daß Serbien seinen Einfluß in Südosteuropa auszudehnen sucht. Das geschieht demnach teilweise mit Hilfe der serbischsprachigen Minderheiten in den Nachbarstaaten, bei denen Belgrad über starken Einfluß verfügt. Im Juli wurde der serbische Innenminister Aleksandar Vulin mit der Äußerung zitiert: »Die Aufgabe dieser Generation von Politikern ist es, die serbische Welt zu schaffen, das heißt, die Serben zu vereinigen, wo immer sie leben«.

Das bezog insbesondere die serbischsprachigen Minderheiten in Bosnien-Herzegowina und im Kosovo ein. Zugleich setzt die serbische Regierung dem ECFR zufolge auf Einflußnahme in den Nachbarstaaten mit Hilfe serbischer Medien. So hat sich die Telekom Srbija kürzlich die Fußballübertragungsrechte für die populäre englische Premier League gesichert und will deren Spiele über ihren Regionalsender Arena Sport, der in allen Nicht-EU-Ländern Südosteuropas empfangen werden kann, übertragen.

Kritiker sehen dahinter eine politische Strategie: Die Regierung in Belgrad wolle den Einfluß serbischer Sender in den Nachbarstaaten ausweiten, um ihre »antiwestlichen Narrative« zu verbreiten. Dies gehe mit wachsendem Einfluß Rußlands und Chinas einher.

Der Tatbestand »Kleptokratie«

Um weitere Einflußverluste der EU in den sechs Nicht-EU-Ländern Südosteuropas zu verhindern, schlägt der ECFR in einem aktuellen Papier verschiedene Maßnahmen vor. So heißt es, die EU könne den Ländern »Zugang zum Binnenmarkt« anbieten; damit würden sie ökonomisch endgültig in die Union integriert, ohne freilich politische Mitspracherechte zu haben.

Weiter heißt es, man könne die südosteuropäischen Länder in die EU-Militärpolitik integrieren und sie dazu etwa an PESCO-Projekten teilhaben lassen; dies liefe letztlich darauf hinaus, ihre Streitkräfte auch für EU-Militäreinsätze zu nutzen.

Zudem plädiert der ECFR dafür, die Europäische Staatsanwaltschaft grenzüberschreitende Ermittlungen gemeinsam mit den südosteuropäischen Behörden durchführen zu lassen und das Europäische Amt für Betrugsbekämpfung (OLAF) in die dortigen Länder zu entsenden. Nicht zuletzt schlägt die Denkfabrik vor, das vor knapp einem Jahr verabschiedete EU-Sanktionsregime (»European Magnitsky Act«) um den Tatbestand »Kleptokratie« zu erweitern und entsprechende Sanktionen in Südosteuropa zur Anwendung zu bringen. Damit könne die EU, heißt es, ihren Einfluß in der Region beträchtlich ausweiten. Dies hatte erst kürzlich Lettlands Premierminister Krišjānis Kariņš mit den Worten gefordert: »Das ist unser Hinterhof.«