Ausland25. März 2025

Piraterie in der Ostsee

Deutschland beschlagnahmt einen russischen Öltanker in der Ostsee. Das Vorgehen ist Teil des NATO-Bestrebens, Rußlands Handelsschifffahrt unter Druck zu setzen. Es erhöht die Kriegsgefahr

von German Foreign Policy

Die mutmaßlich illegale Festsetzung und Beschlagnahmung eines aus Rußland kommenden Öltankers durch die Bundesrepublik Deutschland verschärft die Spannungen in der Ostsee und droht einen gefährlichen Präzedenzfall für den Welthandel zu schaffen. Die deutschen Behörden hatten im Januar den Tanker »Eventin«, der manövrierunfähig in der Ostsee trieb, vor die Küste von Rügen geschleppt. Jetzt verweigern sie ihm die Ausfahrerlaubnis und erklären, er gehe mitsamt seinem Öl in den Besitz des deutschen Staates über, weil er in der Ausschließlichen Wirtschaftszone vor der deutschen Küste die Sanktionen gegen Rußland gebrochen habe – in einer Zone von bis zu 200 Kilometer vor der Küste, in der der Küstenstaat das Recht auf die Ausbeutung der Ressourcen hat, in der aber kein nationales Recht gilt.

Für die Durchsetzung unilateral verhängter Sanktionen gibt es keine Rechtsgrundlage; wer fremde Schiffe beschlagnahmt, begeht einen Akt der Piraterie. Der Vorstoß ist Teil des Bestrebens der NATO, Grundlagen für ein hartes Vorgehen gegen russische Schiffe in der Ostsee zu schaffen. Er eskaliert den Konflikt mit Rußland mutwillig weiter und erhöht die Kriegsgefahr.

Die Ostseewache

Politischer Hintergrund des deutschen Vorgehens im Fall des Erdöltankers »Eventin« ist das Bestreben der Bundesrepublik und anderer NATO-Staaten, den Schiffsverkehr auf der Ostsee stärker unter Kontrolle zu nehmen. Zum einen geht es dabei um den als »Verdacht« geäußerten und nicht begründeten Vorwurf, Rußland könne für Schäden an Unterseekabeln zwischen den südlichen und östlichen Ostseeanrainern und Skandinavien verantwortlich sein.

Dies ist unbewiesen, aber nicht ausgeschlossen, zumal auch NATO-Staaten verdeckte Operationen gegen Rußland durchführen; Washington hat beispielsweise Anfang März Cyberattacken gegen russische Ziele eingestellt und damit eingestanden, daß sie zuvor stattfanden.

Zum anderen geht es darum, daß die westlichen Staaten russische Erdölexporte unterbinden wollen. Das ist bisher selbst mit exzessiven Sanktionen nicht gelungen. Im Westen werden Tankschiffe, die weiterhin russisches Erdöl transportieren, unter dem Begriff »Schattenflotte« zusammengefaßt; es wird nach Möglichkeiten gesucht, sie zu stoppen. Mitte Januar hat die NATO beschlossen, unter dem Operationsnamen »Baltic Sentry« (»Ostseewache«) unter anderem Kriegsschiffe, U-Boote sowie Aufklärungsflugzeuge in die Ostsee zu entsenden, um die Unterwasserinfrastruktur zu »überwachen«. Über weitere Schritte wird nachgedacht.

Die Ausschließliche Wirtschaftszone

Für solche Schritte gibt es einen juristischen Rahmen, der dem internationalen Seerecht entspringt. Demnach haben Staaten umfassende Eingriffsmöglichkeiten in ihren Hoheitsgewässern, die bis zu zwölf Meilen vor ihre Küste reichen. Dort gilt nationales Recht. Anders verhält es sich in der sogenannten Ausschließlichen Wirtschaftszone (AWZ), die sich bis zu 200 Kilometer vor die Küste erstreckt. Dort verfügen die Küstenstaaten zwar über das alleinige Recht, die natürlichen Ressourcen zu nutzen, also Fischfang zu treiben sowie Bodenschätze abzubauen. Zugriff auf fremde Schiffe aber haben sie nicht.

Das bedeutet, daß sie dort weder gegen Schiffe vorgehen dürfen, denen sie unterstellen, Unterwasserkabel beschädigt zu haben, noch gegen solche, von denen sie behaupten, sie verletzten mit dem Transport russischen Erdöls westliche Sanktionen.

Schon seit geraumer Zeit werden in mehreren Anrainerstaaten der Ostsee intensive Überlegungen angestellt, ob sich nicht Zugriffsmöglichkeiten in der AWZ auf die eine oder die andere Weise legitimieren ließen. Manche verträten die These, hieß es schon vor rund einem Jahr in einer Studie der deutschen regierungsnahen Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP), man könne dort »ungeschriebene Rechte und Befugnisse« geltend machen, wenn es dabei um eigene »Sicherheitsinteressen« gehe. Bislang taten dies aber zumeist lediglich Staaten des Globalen Südens zur Abwehr westlicher Kanonenbootpolitik.

Testlauf in Finnland

Erste konkrete Vorstöße hat kürzlich Finnland unternommen – dies, nachdem der Erdöltanker »Eagle S«, der sich auf dem Weg aus dem russischen Ust-Luga ins türkische Aliağa befand, laut Auffassung der finnischen Behörden ein Stromkabel auf dem Boden der Ostsee gekappt hatte. Dies geschah nicht in finnischen Hoheitsgewässern, sondern in der AWZ. Die finnische Küstenwache nötigte daraufhin die Besatzung der »Eagle S«, in die finnischen Hoheitsgewässer einzufahren, wo das Schiff in einer showmäßig inszenierten Aktion mit Spezialkräften, die sich von Hubschraubern abseilten, geentert wurde. Das Angebot, ihr Personal über die regulären Lotsenleitern an Bord klettern zu lassen, hätten die finnischen Behörden abgelehnt, wird berichtet.

Anschließend wurde ein Verfahren gegen die Besatzung der »Eagle S« eingeleitet. Bei der Operation handelt es sich um einen Präzedenzfall nicht nur bezüglich der Frage, ob die Beschädigung von Unterseekabeln in der AWZ durch den Küstenstaat geahndet werden darf; Finnland teste eine entsprechende Rechtsauslegung, wird der Seerechtsexperte Valentin Schatz von der Leuphana Universität Lüneburg in der »Frankfurter Allgemeinen Zeitung« vom 15. Januar zitiert.

Auch die Frage, ob man gegen Schiffe und die Besatzung nach nationalem Recht vorgehen könne, sofern man sie zum unfreiwilligen Verlassen der AWZ und zum Einfahren in die Hoheitsgewässer genötigt habe, wird vom finnischen Vorgehen berührt. Der Gerichtsprozeß darüber dauert an.

Testlauf in Deutschland

Den nächsten Vorstoß hat nun Deutschland gestartet – mit seinem Vorgehen gegen den Öltanker »Eventin«, der sich mit knapp 100.000 Tonnen Erdöl auf dem Weg aus Ust-Luga nach Ägypten befand. Im Januar trieb der Tanker manövrierunfähig in der Ostsee und wurde von einem deutschen Schlepper vor die Küste von Rügen gezogen. Dort wurde er offenbar repariert; jedenfalls wurde ein Weiterfahrverbot, das die zuständigen deutschen Behörden zunächst verhängt hatten, nach sorgfältiger Überprüfung des Schiffs sowie seiner Unterlagen wieder aufgehoben.

Die erforderliche Ausfahrerlaubnis, die die Besatzung der »Eventin« daraufhin beantragte, wurde jedoch nicht erteilt: Daß das Schiff – manövrierunfähig – in die deutsche AWZ getrieben sei, sei ein Verstoß gegen das Sanktionsrecht, heißt es. Inzwischen wurde die »Eventin« samt dem von ihr transportierten Öl beschlagnahmt und in deutschen Besitz überführt. Der Vorgang sei »europaweit bisher einmalig«, heißt es dazu in der »FAZ« am 22. März.

In der Tat wurden die Sanktionen einseitig von diversen westlichen Staaten verhängt und können in einer AWZ keinerlei Geltung beanspruchen. Gelingt es Berlin, sein Vorgehen für rechtmäßig erklären zu lassen, dann könnte es jeden aus Rußland kommenden Öltanker, den es zur Einfahrt in die deutsche AWZ veranlassen kann, beschlagnahmen und enteignen.

Am vergangenen Freitag meldete dpa, daß gegen die »Eventim« nun »zollrechtliche Maßnahmen« laufen. »Nach Informationen der Deutschen Presse-Agentur wurde bereits geprüft, wo das Schiff abgepumpt werden könnte. Dabei wird auch überlegt, ob beim Durchfahren internationaler Gewässer – aus der Ostsee in die Nordsee – Sicherheitsprobleme bestehen und ein militärischer Geleitschutz erforderlich werden könnte.« Die Staatsanwaltschaft hatte zuvor erklärt, es gebe »keinen Hinweis auf eine Straftat«.

»Eine Kriegserklärung«

Die Folgen wären gravierend. Künftig könnten dann sämtliche Staaten weltweit ganz nach Belieben unilaterale Sanktionen gegen ein mißliebiges Land verhängen und dessen Schiffe, sollten sie in der AWZ vor seiner Küste kreuzen, beschlagnahmen. Rußland etwa könnte dies in seiner AWZ vor Kaliningrad tun, Iran im Persischen Golf und China im Südchinesischen Meer. Eskalierende Konflikte wären unausweichlich.

Dies gilt auch dann, wenn Deutschland und weitere NATO-Staaten ihr Vorgehen gegen aus Rußland kommende Schiffe nach dem Vorbild ihres Vorgehens gegen die »Eventin« ausdehnen. So erklärte Lettlands Präsident Edgars Rinkēvičs bereits im vergangenen Jahr, eine Option, die die NATO wählen könne, bestehe darin, auf die eine oder andere Weise die Ostsee für alle russischen Schiffe faktisch zu sperren. Dies komme zwar »einer Kriegserklärung« gleich; doch müsse man ja wohl alle im Machtkampf gegen Rußland in Frage kommenden Instrumente »diskutieren« dürfen, schrieb die »Financial Times« bereits am 4. Juni 2024.

Konkrete Schritte in diese Richtung schlug bereits am 1. Februar der Bundesvorsitzende der Partei Die Linke, Jan van Aken, vor. »Die Küstenwachen der Ostsee-Anrainer haben die Möglichkeit«, behauptete van Aken, »Inspektionen zu machen und Schiffe über Tage und Wochen festzuhalten«. Daß es dazu im internationalen Recht ohne einen Beschluß der UNO keine Grundlage gibt, erwähnte van Aken nicht.

Über die Folgen gehäufter Akte faktischer NATO-Piraterie gegen russische Schiffe erklärte der Bundestagsabgeordnete: »Das jubelt die Transportkosten so an die Decke, daß sich dieser Ölhandel nicht mehr lohnt. Putins Kriegskasse wird richtig geleert.«

Daß sich Rußland systematische rechtswidrige Übergriffe gegen seine Schiffe gefallen lassen wird, kann freilich als ausgeschlossen gelten. Eine bewaffnete Eskalation wäre nah.