Leitartikel07. September 2024

Druck auf dem Kessel

von

Immer mehr Unternehmen scheinen sich hierzulande nicht mehr so wirklich für den lange Zeit als Heiligenbildchen herumgetragenen »Sozialdialog« zu interessieren. Den Eindruck bekommt man, wenn man regelmäßig liest, was deren führende Köpfe von der neuen Regierung so fordern, wenn es etwa um Löhne oder Renten geht. Zwar erreichen die Gewerkschaften immer wieder kleine und große Erfolge im Kampf gegen die fortwährenden Ungerechtigkeiten in der Arbeitswelt, doch scheint es immer mehr zu einem endlosen Kampf gegen Windmühlen zu werden, weil der vielgepriesene Sozialdialog eben nur eine Fassade ist.

Und es gibt immer noch zu viele Lohnabhängige, die nicht organisiert sind und ihren Bossen auf Gedeih und Verderb ausgeliefert sind. In diesen Zeiten, wo Unternehmen jede Möglichkeit nutzen, um soziale Errungenschaften in den Betrieben einzukassieren, eine gefährliche Situation.

Das Verständnis, daß die erreichten sozialen Errungenschaften in den Betrieben von den Generationen vor uns hart erkämpft wurden und keine Selbstverständlichkeit oder gar unternehmerische Gutherzigkeit darstellen, geht leider verloren. Das liegt vor allem an der gezielten Entpolitisierung der Arbeiterbewegung und eben dem Mantra der »Sozialpartnerschaft« der vergangenen Jahrzehnte, welches den Beschäftigten mehr und mehr signalisierte, es ginge schon alles von selbst.

Die Tradition, betriebliche Mitbestimmung, Arbeitszeitverkürzung und andere Forderungen mit Druck als Masse von der Straße her durchzusetzen, ist in den Köpfen nicht mehr präsent. Dabei wäre es gerade jetzt, wo viele der angesprochenen Errungenschaften scheibchenweise zurückgenommen werden sollen, an der Zeit, sich darauf zu besinnen, welche Wirkung und welchen Wert die Organisation in einer Gewerkschaft hat. Seine eigenen Ideen in Gewerkschaftspolitik mit einzubringen und in der Masse stark zu sein, Druck zu machen.

Gewerkschaftlich organisierte Beschäftigte, Schüler, Studenten und Rentner sind, trotz manch sprachlicher Barriere hierzulande, deutlich schwerer zu spalten. Gerade in der aktuellen Situation ist es wichtig, deutlich zu machen, daß die Krise nicht so einfach auf die Lohnabhängigen abzuwälzen ist.

Dazu gehört, zu verstehen, daß eine Verlängerung der Lebensarbeitszeit auf Basis der demographischen Entwicklung falsch und patronatsfreundlich ist. Dazu gehört, zu verstehen, daß eine Forderung nach kürzerer Wochen- und Lebensarbeitszeit nicht weniger Einkommen bedeuten darf und daß Mitbestimmung im Betrieb und die Forderung nach moderneren Arbeitsmöglichkeiten und mehr Flexibilität im Sinne der Lohnabhängigen keine Bittstellerei, sondern ein legitimes Recht sind. Die Menschen investieren ihre Arbeitskraft und ihre Lebenszeit, um ein Auskommen zu verdienen. Eigentlich sind die »Arbeitnehmer« in Wahrheit die Arbeitgeber. Dieser Begriff allein zeigt, wie die Bewegung für mehr Arbeitsgerechtigkeit durch die »Sozialpartnerschaft« in den letzten Jahrzehnten entschärft wurde.

Während Wissenschaftler im 19. Jahrhundert sicher waren, daß es im Jahr 2000 aufgrund extremer Produktivität und riesigem geschaffenem Wohlstand nur noch darum gehen werde, nach getaner Arbeit die massive Freizeit eines Tages verbringen zu können, zeigt uns die Realität nahezu ein Vierteljahrhundert nach diesem Stichdatum eine nur noch mehr von Arbeitshetze, Armut und sozialen Kämpfen geprägte Zeit.

Darum sollte der finanzielle Beitrag einer Gewerkschaftsmitgliedschaft keine Hürde sein, wenn es darum geht, etwas zu bewegen. Die sozialen Errungenschaften früherer Generationen dürfen nicht auf dem Silbertablett präsentiert werden, auch wenn man meint, nur nach sich selbst schauen zu müssen. Wachsende Ungerechtigkeit in der Arbeitswelt fällt irgendwann auch auf einen selbst zurück.