Waffen schweigen im Libanon
Die Situation bleibt fragil. Inlandsvertriebene kehren zurück
Am frühen Mittwochmorgen trat die Waffenruhe zwischen Israel und dem Libanon in Kraft. Schon in den frühen Morgenstunden hatten viele Vertriebene ihre Autos mit Taschen, Rucksäcken, Decken und Matratzen bepackt, um in ihre Dörfer zurückzukehren. Noch vor 4 Uhr – dem offiziellen Beginn der Waffenruhe – verwandelten sich die Straßen Beiruts in einen großen Stau mit tausenden Fahrzeugen. Eine Autoschlange zog sich Richtung Beeka-Ebene, die anderen brachen in Richtung Süden auf und schlängelten sich durch die verwüsteten Straßen der südlichen Vororte Dakhieh, vorbei an zertrümmerten Wohnhäusern und Brücken.
Während die Bewohner von Burj al-Brajneh, Haret Hreik und den anderen von israelischen Raketen schwer verwüsteten südlichen Vororten Fahnen der Hisbollah auf den Trümmerbergen hißten, wurden über Fernsehkanäle und »soziale Medien« Fotos und Filmaufnahmen verbreitet, die entlang der Küstenstraße eine dichte Autoschlange zeigten, die sich in Richtung der südlibanesischen Hafenstadt Sidon wälzte. Von dort fuhren die Fahrzeuge im Schrittempo weiter südlich in das von Bomben zerstörte Tyrus. Die historische Hafenstadt war in den letzten zwei Monaten nahezu täglich von israelischen Raketen bombardiert worden.
Die Schäden begutachten
Nach und nach wurde die Autoschlange gen Süden lichter, da viele Familien über schmale Straßen in die Berge oberhalb von Sidon fuhren, um in ihren Heimatdörfern in der Provinz Nabatieh ihre Häuser und Wohnungen wieder in Besitz zu nehmen. Fahnen der Hisbollah und der Amal-Bewegung wurden aus Fenstern und Schiebedächern geschwenkt, aus Autoradios und Lautsprechern waren Kampflieder zu hören. Zur Begrüßung der Rückkehrer schwenkten die zurückgebliebenen Überlebenden Fahnen und zeigten Bilder von Hassan Nasrallah. Der langjährige Generalsekretär der Hisbollah war am 27. September 2024 bei einem massiven Angriff der israelischen Luftwaffe auf einen Straßenzug in Haret Hreik getötet worden.
Die Menschen feierten die Waffenruhe und ihre Rückkehr als Sieg. Die Spannung und Unsicherheit der vergangenen Monate wichen einer großen Freude darüber, daß die Angriffe gestoppt waren. Zumindest vorerst scheint eine Lösung gefunden, die ihnen ermöglicht zurückzukehren, die Schäden zu begutachten und mit dem Wiederaufbau zu beginnen. Niemand macht sich eine Illusion darüber, daß der Wiederaufbau leicht sein wird, denn die Zerstörungen sind sehr viel größer, als sie es nach dem Krieg 2006 waren, der »nur« einen Monat gedauert hatte. Der Iran hat bereits Hilfe für den Wiederaufbau zugesagt.
Westliche Spendengelder sind gestoppt
Außer den UNO-Organisationen und dem Internationalen Komitee vom Roten Kreuz fehlten die vielen europäischen Nichtregierungsorganisationen völlig während der Kriegsmonate. Es sei »eine politische Sache«, erklärte ein Priester der Autorin beim Besuch einer von seiner Gemeinde betriebene Suppenküche, die täglich 4.000 Mahlzeiten an mittellose Menschen abgab. »Es ist ein Krieg zwischen Israel und der Hisbollah, und die westlichen Spendengelder sind gestoppt, weil es um Politik geht.«
Mit anderen Worten, die vom Krieg vertriebenen Familien aus dem Südlibanon und aus den südlichen Vororten werden als »Hisbollah-Unterstützer« eingestuft und erhalten daher keine Unterstützung aus den westlichen Ländern, die an der Seite Israels stehen. Die Suppenküche – die nach der Explosion im Hafen von Beirut 2021 eingerichtet wurde – erhält Geld aus der Stiftung eines der weltweit größten Containerunternehmens, das in den 1930er Jahren von einem libanesischen Geschäftsmann gegründet worden war.
Gesagt wird das natürlich nicht, sondern es wird – wie von der deutschen Bundesregierung – auf 60 Millionen Euro verwiesen, die an die UNO-Organisationen und an das IKRK im Libanon für ausgewählte Hilfe übergeben wurden. Das Geld tröpfelt dann zu den Notunterkünften, wo die Aktiven der vielen libanesischen Hilfsorganisationen und Hilfskomitees sich bemühen, beispielsweise 500 Matratzen an 3.000 Inlandsvertriebene zu verteilen. Nun sind die Menschen froh, der entwürdigenden Situation als Vertriebene entkommen zu können, und selbst wenn sie in einem beschädigten oder teilzerstörten Haus bleiben müssen, so fühlen sie sich dort mehr aufgehoben als in der Unsicherheit von Notunterkünften.
Die zurückkehrenden Brüder Hassan schickten Fotos an die Autorin von ihrer Rückkehr. Ihre Familien waren zunächst bei der Familie in Beirut geblieben, damit sie die Häuser untersuchen konnten, um zu sehen, ob es Schäden gab oder ob alles in Ordnung sei. Wichtig sei, daß sie alle gesund geblieben seien und daß es nicht zu einem innerlibanesischen Streit oder gar zu Kämpfen gekommen sei, so die Brüder. Der Zusammenhalt der Libanesen habe sie gestärkt.
Parlamentssprecher Nabih Berri hatte am Mittwoch die Libanesen im In- und Ausland zur Rückkehr in ihre Heimat aufgerufen. Das Land sei »das Erbe der Märtyrer«, so Berri, der an Hassan Nasrallah erinnerte, der ihm »die Verantwortung des politischen Widerstands« anvertraut habe. Berri betonte die Einigkeit der Libanesen, die das Land vor weiteren Angriffen schützen müsse. »Auch wenn ihr zwischen Trümmern leben müßt, kehrt zurück in das Land, das der Widerstand erhalten hat«, so Berri. Vieles sei zu tun, Berri kündigte an, daß das Parlament am 9. Januar 2025 einen neuen Präsidenten wählen solle, um die Einheit des Landes zu stärken.
Rückkehr ins Ungewisse
Die USA-Administration und Frankreich haben die Waffenruhe zwischen Libanon und Israel ausgehandelt. Offiziell handelt es sich um eine Waffenruhe, nicht um einen Waffenstillstand. Die Waffenruhe wurde zwischen Israel und der libanesischen Hisbollah vereinbart, die bei den offiziellen Verhandlungen von Parlamentspräsident Nabih Berri vertreten wurde. Berri ist Vorsitzender der Amal-Bewegung, die an der Seite der Hisbollah im Südlibanon einen israelischen Einmarsch stoppen konnte. Details der Vereinbarung sind nicht vollständig bekannt, die Waffenruhe soll 60 Tage gelten. In dieser Zeit soll die israelische Armee ihre Truppen aus dem Süden Libanons verlassen haben. Die Hisbollah soll ihre schweren Waffen aus dem Süden in den Norden verlagern, hinter den Fluß Litani. Der Fluß liegt rund 30 Kilometer von der »Blauen Linie« entfernt, der Waffenstillstandslinie zwischen Israel und dem Libanon aus dem Jahr 1978. Die libanesische Armee soll entlang der »Blauen Linie« stationiert werden und – gemeinsam mit der UNO-Friedensmission für Libanon (UNIFIL) den Abzug überwachen.
Da die libanesische Armee militärisch außerordentlich schwach ist, soll sie von einem Kommando aus USA-Truppen und aus Frankreich »unterstützt« werden. Unklar ist noch, wie viele libanesische Soldaten und wie viele US-amerikanische und französische Soldaten eingesetzt werden sollen. Eine Teilnahme von Britannien und Deutschland an diesem Kommando wird es nicht geben, die Hisbollah hatte das abgelehnt.
Israel behauptet, das »Recht« zu haben, den Libanon anzugreifen, sollte Hisbollah sich nicht an die Vereinbarung halten. Unter Verweis auf die libanesische staatliche Souveränität hat der Libanon einer solchen Formulierung nicht zugestimmt. Laut Berichten aus Israel und den USA soll Israel von der Biden-Administration und auch vom Pentagon allerdings die Zusage für einseitiges militärisches Eingreifen erhalten haben. Das bedeutet, daß die gesamte Vereinbarung über eine Waffenruhe sehr fragil ist.
»Kriege an sieben Fronten«
Der israelische Ministerpräsident Benjamin Netanjahu hatte der Vereinbarung zugestimmt, weil die israelische Armeeführung dafür eingetreten war. Libanesische Medien berichten, das Netanjahu unter dem Druck der Armee schon vor Wochen die USA-Administration um Vermittlung für eine Waffenruhe gebeten haben soll. In einer Rede an die Bürger Israels am Dienstagabend, vor Inkrafttreten der Waffenruhe, erklärte Netanjahu, er habe »den Sieg versprochen« und man werde »den Sieg erreichen«. Man werde »die Hisbollah auslöschen, die Geiseln nach Hause bringen« und dafür sorgen, daß alle Bewohner des Nordens zurückkehren könnten. An sieben Fronten sei Israel erfolgreich auf gegnerischen Boden vorgedrungen, erklärte Netanjahu und nannte den Krieg in Gaza, im Westjordanland, gegen den Jemen, den Irak, Syrien, den Libanon und den Iran. Diese militärischen »Errungenschaften« hätten »weltweit Ehrfurcht und Bewunderung ausgelöst und verleihen Israel im gesamten Nahen Osten eine starke Ausstrahlung«, so Netanjahu.
Wichtig sei, daß Israel sich mit der Zustimmung der USA »die vollständige Freiheit für militärische Operationen gegen die Hisbollah« gesichert habe. Die Waffenruhe zum jetzigen Zeitpunkt habe drei Gründe. Israel werde sich auf den Iran konzentrieren und verhindern, daß er Atomwaffen erhalte, so Netanjahu. Das sei für ihn »die wichtigste Aufgabe, um die Existenz und die Zukunft des Staates Israel zu sichern«. Die Waffenruhe ermögliche der Armee eine Erholungsphase und ermögliche die Aufstockung der Waffen- und Munitionslager und man werde die Hamas isolieren.
Was Netanjahu in seiner Kriegsrede nicht erwähnte war, daß die USA offenbar erheblichen Druck auf ihn ausgeübt hatten. Laut unbestätigten Berichten habe Washington gegenüber Tel Aviv angedeutet, Israel wegen der offensichtlichen Massaker, Angriffe auf Zivilbevölkerung und zivile Infrastruktur und nicht zuletzt wegen der internationalen Haftbefehle gegen Netanjahu und den ehemaligen Kriegsminister Yoav Gallant im UNO-Sicherheitsrat nicht weiter schützen zu können. Das wiederum hätte zur Anwendung von Strafmaßnahmen gemäß Kapitel VII der UNO-Charta gegen Israel geführt.
Im Libanon haben die israelischen Streitkräfte in den zwei Monaten gezielter und massiver Angriffe ihr Ziel – die Vernichtung der Hisbollah – nicht erreicht. Zwar hat die Organisation – und mit ihr die Zivilbevölkerung – schwere Schläge einstecken müssen und die Zerstörungen durch die israelischen Angriffe sind enorm, aber die Hisbollah ist nicht vernichtet und sie hat einen Einmarsch der israelischen Truppen und die Besetzung von libanesischem Territorium verhindert. Israel konnte zerstören, aber keinen Ort militärisch halten. Keine der großen Städte Khiam, Bint Jbeil oder Naqura wurden von israelischen Truppen eingenommen.
Frieden ist nicht in Sicht.
Frieden ist gleichwohl nicht in Sicht, weil nicht nur die USA, die NATO und westliche Staaten Israel bei ihrem kriegerischen Vorgehen unterstützen, auch die israelische Bevölkerung die Kriege mehrheitlich begrüßt. Die Siedlerverbände aus dem Norden Israels sprechen von einer falschen Entscheidung und lehnen die Waffenruhe ab. Sie meinen, nur die Vernichtung der Hisbollah werde ihnen Sicherheit bringen. Im Kabinett werden die Siedler von Itamar Ben-Gvir vertreten, dem Minister für Nationale Sicherheit. Er steht an der Seite der rechtsextremen Siedlerbewegung und hat als einziger im Kriegskabinett gegen die Entscheidung gestimmt.
Die Verhängung von Sanktionen der israelischen Regierung gegen die Tageszeitung »Haaretz«, die zahlreiche Kriegsverbrechen der israelischen Armee aufgedeckt hat zeigt, daß die wenigen Oppositionellen in Israel immer mehr unter Druck geraten.
Die Lage bleibt fragil, regionale Grundfragen ungelöst. Die Zerstörungen im Libanon sind groß. Es wird lange dauern und viel kosten, die Häuser und Dörfer wiederaufzubauen. Die israelische Armee setzte zudem Streubomben und Weißen Phosphor ein – Gebiete im Süden des Landes sind unbewohnbar. Die Frage bleibt, was nach 60 Tagen Waffenruhe geschehen wird. Dann wird Donald Trump USA-Präsident sein und der Politik in der Region einen neuen Stempel aufdrücken. Netanyahu wird vermutlich noch immer im Amt sein. Die USA haben weitere Waffen und Truppenverbände in die Region verlegt.
Das gilt auch für Syrien, wo an dem Tag, an dem die Waffenruhe im Libanon begann, bewaffnete Kampfverbände des Al Qaida-Ablegers Hay’at Tahrir al Scham einen Angriff auf die Orte Nubl und Zahra starteten, die westlich von Aleppo liegen.
Die Lage bleibt fragil, regionale Grundfragen bleiben ungelöst. Die Zerstörungen im Libanon sind groß. Es wird lange dauern und viel kosten, die Häuser und Dörfer wieder aufzubauen. Die israelische Armee setzte zudem Streubomben und Weißen Phosphor ein – ganze Gebiete im Süden des Landes sind unbewohnbar.
Die Gesamtsituation in der Region steuert weiter am Rande eines großen Krieges entlang.
Der Krieg gegen Gaza geht derweil ununterbrochen weiter. Am Mittwoch und Donnerstag wurden erneut Dutzende Palästinenser vor allem im Norden des Gazastreifens aber auch in Gaza Stadt und im Süden bei Angriffen getötet. Im Flüchtlingslager Nuseirat wurden neun Mitglieder einer Familie getötet. Die Zahl der Toten seit dem 7.10.2023 stieg laut offiziellen palästinensischen Angaben auf 44.282, während mindestens 10.000 Opfer unter Trümmern nicht geborgen werden können. Die Zahl der Verletzten wird mit 104.880 angegeben.