Ausland20. Oktober 2023

Bangen in Kiew

Selenski taucht unangemeldet bei seinen bisher willigen Helfern im Ausland auf. Russische Streitkräfte in der Offensive

von Arnold Schölzel

Zum ersten Mal erschien der ukrainische Präsident Wolodimir Selenski am Mittwoch vergangener Woche im Brüsseler NATO-Hauptquartier – und das unerwartet. Anlaß war das 16. Treffen der sogenannten Ukraine-Kontaktgruppe, einer von den USA geführten Koalition von rund 50 zur militärischen Unterstützung Kiews willigen Staaten. Die Sitzung sollte auf Ministerebene stattfinden, ein Staatsoberhaupt war nicht vorgesehen, aber offenbar herrscht nach dem Aufflammen des Gaza-Krieges mindestens Verunsicherung in Kiew, wenn nicht Panik – die Nachrichten von den Schlachtfeldern sind schlecht, der Winter steht vor der Tür und im Entwurf des USA-Haushalts ist keine Hilfe fürs ukrainische Faß ohne Boden vorgesehen.

USA-Kriegsminister Lloyd Austin begrüßte Selenski demgemäß mit Phrasen wie: »Wir stehen zusammen, Putin steht allein.« Selenski erfuhr anschließend allerdings, daß das Zusammenstehen etwas durchlässig geworden ist. Jedenfalls faßte das englischsprachige Springer-Blatt »Politico« zusammen, der Kiewer habe »ein Europa entdeckt, das nicht länger völlig auf den Krieg konzentriert ist, den Rußland gegen sein Land entfesselt hat«.

Selenskis Antwort bestand in der Steigerung seiner antirussischen Hetze: Er setzte Hamas und Wladimir Putin gleich, weil beide »versuchen, freie und demokratische Nationen als Geiseln zu nehmen«. In der belgischen Hauptstadt widersprach niemand und als Selenski nach Hause fuhr, hatte er die etwas hohle Versicherung Austins im Gepäck, die USA seien stark genug, um zwei Kriege anzuheizen. Außerdem kündigte er neue USA-Militärhilfe im Umfang von vergleichsweise mickrigen 200 Millionen US-Dollar an – die für Kiew vorgesehenen USA-Finanzen gehen langsam zur Neige. Belgien versprach die Lieferung von F-16-Kampfjets – für 2025.

Selenski hatte den Eindruck, daß sich der Wind dreht. In seiner abendlichen Videoansprache schrammte er am Samstag jedenfalls scharf an einem außenpolitischen Eklat vorbei: »Da sich der Terror weltweit ausbreitet, ist es wichtig, daß die Welt ein klares Signal sendet, daß die Terrorbekämpfung nirgends ins Wanken gerät.« Das mußte nicht in Klartext übersetzt werden und Selenskis deutsche Durchhaltefreunde folgten beflissen. Grünen-Chef Omid Nouripour: »Es gibt eine sehr große Sorge in der Ukraine, daß ihr Schicksal jetzt unter die Räder kommt.« Dies dürfe man nicht zulassen.

Die Mahnung ist nötig. Schon in den vergangenen Wochen wurde es in den deutschen Kriegsmedien etwas stiller, nur der britische Geheimdienst meldet unbeirrt täglich den bevorstehenden russischen Zusammenbruch.

Am Freitag verbreiteten aber selbst die westlichen Medien, daß Rußland in der Offensive ist. Die russische Armee versuche, hieß es bei dpa, eine der wichtigsten Bastionen der Ukraine im Donbass einzukesseln: die Industriestadt Awdejewka, gut 15 Kilometer entfernt von Donezk. Seit dem Beginn der »antiterroristischen Operation« der Kiewer faschistischen Putschisten 2014 gegen den Aufstand im Donbass wird von hier aus wahllos mit Artillerie in Wohngebiete von Donezk gefeuert, seit einem Jahr auch mit Artillerie im NATO-Kaliber 155 Millimeter – ein permanentes Kriegsverbrechen.

Am Montag faßte der russische Verteidigungsminister Sergej Schoigu bei einer Beratung mit Putin die Lage so zusammen: Kiew habe weder in der Frühjahrsoffensive noch in der Sommeroffensive oder jetzt in der Herbstoffensive einen bedeutenden Erfolg erzielt. Entlang der gesamten Front sei »eine ziemlich tiefe, tiefgestaffelte Verteidigung aufgebaut« worden. Seit Beginn der Sommerkampagne am 4. Juni habe Kiew »schwere, wenn nicht sogar erhebliche Verluste an Personal und Material erlitten« – Hunderte von Panzern, mehr als tausend, fast 1.500 gepanzerte Fahrzeuge – und tut dies auch weiterhin.« Das trifft wohl alles zu und so hat Selenski allen Grund, unangemeldet bei seinen bisher willigen Helfern aufzutauchen. Deren Lustlosigkeit dürfte von Mal zu Mal anwachsen.