ZWEIFEL UM DEN KRIEG
Es sind bittere Tage! Die Bilder von Jagdfliegern, Panzern, der Gedanke an Tod und Vernichtung, das Wissen um Angst und Verzweiflung, um Großmütter, um Babys, um junge Männer – auch hier, in sicherer Entfernung, sind kaum zu ertragen. Viele gehen demonstrierend auf die Straße, sehr viele.
Ich bin absolut gegen diesen Krieg, den Wladimir Putin gestartet hat und noch heute weiterführt. Ich versuchte fast immer, an Friedens-Demos teilzunehmen – besonders an Ostermärschen, gerade deshalb, weil meist zu wenige dabei waren. Weshalb nagen denn jetzt einige Zweifel an mir – auch wenn ich mit den Tausenden zutiefst sympathisiere, die aus vollem Herzen gegen die Misere, die Kriege immer verursachen, auf die Straße gehen?
Ich bin deshalb zerrissen, weil, trotz echter Tränen, ich nicht umhin kann, auch hinzuschauen, wer da mitläuft und wer vorn so laut nach Frieden, Freiheit und Demokratie ruft. Erkenne ich darunter nicht einige, die seit Jahren gerade gegen diese Ziele aktiv waren?
Reden da nicht auch jene Herren vom Pentagon und vom Bendlerblock, denen ich als Verbündete in meinem Friedenswunsch kaum trauen kann? Solche Zweifel machen mich unbeliebt, auch isoliert. Dennoch blättere ich nach:
Die Außenpolitik meiner Heimat USA begann im 20. Jahrhundert mit Kuba, Puerto Rico und den Philippinen – von Spanien wegerobert. Mark Twain, Mitbegründer der Antiimperialistischen Liga, zitierte einen General Smith, der Folgendes befahl, als er die Kämpfer auf der Insel Samar, die Freiheit wollten, niederschlagen ließ: »Ich wünsche keine Gefangenen. Ich wünsche, daß ihr tötet und niederbrennt; je mehr getötet und niedergebrannt wird, umso mehr wird es mich freuen.« Samar solle in eine »heulende Wildnis« verwandelt werden. Filipinos, die imstande waren, mit Waffen umgehen zu können und sich nicht ergaben, sollten niedergeschossen werden, alle, die »älter als 10 Jahre« waren.
Änderten sich später die Ziele und Methoden? Der pensionierte Marine-General Smedley Butler berichtete 1935: »Ich half dabei, Mexico und insbesondere Tampico 1914 für US-amerikanische Ölinteressen sicher zu machen. Ich trug dazu bei, daß Haiti und Kuba ein anständiger Ort für die Jungs der National City Bank wurden, um Einnahmen einzusacken. Ich half bei der Vergewaltigung eines halben Dutzends Republiken in Mittelamerika zugunsten der Wall Street. Die Aufzeichnungen jener Gaunereien sind lang. Ich half 1909-12 Nicaragua aufzuräumen für das internationale Bankhaus der Brown Brothers. Ich brachte 1916 grünes Licht in die Dominikanische Republik für amerikanische Zuckerinteressen. Ich half 1903, Honduras für amerikanische Fruchtkonzerne ‚passend‘ zu machen. In China half ich 1927, für Standard Oil den Weg zu bahnen.... Wir Marinesoldaten kämpften auf drei Kontinenten.«
Wurde es nach dem Zweiten Weltkrieg anders? Nordkorea wurde derart zerbombt, daß kaum ein zweistöckiges Gebäude stehen blieb; drei Millionen Menschen wurden getötet. Ähnlich erging es Laos, Kambodscha und Vietnam, wo, unter nahezu 400.000 Tonnen Napalm, wieder Millionen Menschen starben, auch Regenwälder, auch die Genstrukturen von Generationen – meist durch Jagdbomber im Tiefflug.
Diese Herren blickten des Erdöls wegen nach Westasien – und verdrängten dort 1953 die Demokratie (und auch den Rivalen England): »Wir beteiligten uns am Sturz des Regimes in Iran… Die Eisenhower-Regierung … eliminierte eine liberal-nationalistische Elite, indem sie die Durchführung des Putsches gegen Dr. Mosaddeq unterstützte.« Der Schah durfte dann 26 blutige Jahre herrschen, der frei gewählte Ministerpräsident blieb während seiner restlichen Jahre unter Hausarrest.
Man schaute wieder nach Zentralamerika, intervenierte gegen den demokratisch gewählten Präsidenten von Guatemala, Jacobo Árbenz, dessen Landreform den USA-Konzern United Fruit Company (heute Chiquita) ärgerte. CIA-Direktor Allen Dulles und sein Bruder, Außenminister John Foster Dulles, stempelten Arbenz als »Kommunisten und Handlanger Moskaus« ab, bauten eine »Befreiungsarmee« auf und zwangen Arbenz zum Rücktritt. Die Agrarreform wurde rückgängig gemacht, United Fruit vertrieb die Kleinbauern, die Alphabetisierungskampagne wurde gestoppt, die kommunistische Partei verboten und viele Arbenz-Anhänger ermordet und gefoltert, auch mit Elektroschock-Bädern und stählernen »Schädelkappen«. In den folgenden Jahrzehnten schätzt man die Zahl der Getöteten, meist Maya-Dorfbewohner, auf mindestens 200.000.
Die Medien, die zu Recht über das Leiden von Ukrainern klagen und Putins Grausamkeit anprangern, frage ich, wo ihre Anprangerungen dann blieben, als Patrice Lumumba mit CIA-Hilfe im Kongo 1960 gefoltert, erschossen, zersägt und in Säure aufgelöst wurde, und das Volk jahrzehntelang ausgeplündert wurde – mit Washingtons Hilfe und Segen. Was meinten sie, als in Indonesien ein vom State Department unterstützter Putsch zur Ermordung von bis zu zwei Millionen angeblichen »Kommunisten« führte, oft nur deshalb, weil sie einer Gewerkschaft zugehörten?
Haben diese Leute, von Henry Kissinger bis Franz-Josef Strauß, nicht gar gefeiert, als Salvador Allende im brennendem Präsidentenpalais La Moneda starb? Nahmen sie nicht lachend in Kauf, daß Muammar al-Gaddafi tödlich durchbohrt wurde? Hatte die CIA nicht mehr als hundertmal versucht, Fidel Castro zu ermorden? Wo war ihr Mitleid, als vor acht Jahren mehr als fünfhundert Kinder in Gaza im Bombenhagel starben – darunter vier Jungen, neun bis elf Jahre alt, die beim Fußballspiel am Strand durch eine israelische Rakete getötet wurden?
War es nicht allein der tödliche Krebs, der Erich Honecker vor dem Zuchthaus bewahrte – wo er zum zweiten Mal im Leben eingesperrt worden war? Wo bleibt die Sympathie für den verbannten Snowden, und erst recht für den lebensbedrohlich isolierten Julian Assange? Oder betrauern sie nur das Leiden der »eigenen Leute«?
Manchen Menschen und Medien ist offenbar die jetzige Motivation nicht Sympathie für eine »freie Ukraine«, sondern eher ein langgehegter Haß gegen Rußland. Von 1917 bis 1991 richtete er sich gegen das dort Sozialistische, also die Enteignung der millionenschweren, heute oft milliardenschweren Vermögen, die sie oder ihre Väter zusammengerafft hatten, und die sie obsessiv vermehren und keineswegs aufgeben wollten – nein, keinen Cent davon! Die Sowjetunion war demzufolge ihr Feind. Ihre Abneigung war derart stark, daß sie lieber die kruden Nazis und Faschisten unterstützten als auch nur eine kleine freundschaftliche Geste den Sowjets gegenüber zu wagen. Das war die tragische Erklärung für die obszöne Unterstützung Englands, Frankreichs und der USA für Francisco Franco im Spanienkrieg 1936-1939, obwohl er von Hitler und Mussolini massiv unterstützt wurde, mit dem Ziel, den größeren Krieg vorzubereiten. Diese Entscheidung – lieber eine faschistische Regierung als eine sozialistische, oder auch nur eine demokratisch gewählte – galt weiter beim Abkommen von München 1938 auf Kosten der Tschechoslowakei.
Es kam zu einer Kursabweichung zwischen Juni 1941 und Mai 1945, als die Menschen im Westen unmöglich für eine Kriegsallianz mit Hitler gegen die UdSSR zu gewinnen waren. Man ließ sich aber mit der Zweiten Front dennoch Zeit, und überließ den Sowjets dadurch die Hauptlast des Krieges – also rund 27 Millionen Tote und eine zerstörte Wirtschaft.
Und danach ging es weiter gegen das »Reich des Bösen«, wie es Präsident Reagan 1983 formulierte – auch wenn man 1962 bei der »Raketenkrise« um Kuba noch an der atomaren Vernichtung vorbei geschlittert war.
Mit den Jahren gab es bei den Sowjets auch nach Stalin Fehler, Starrsinn und Zeichen der Stagnation, wenn auch manche Schwächen geschichtsbedingt waren – gegenüber der Supermacht USA mit ihren vielen Vorteilen und Verbündeten, nicht zuletzt in Bonn und Frankfurt. 1991 schien deren Sieg nahe; schon mit Gorbatschow war die UdSSR zu einem Wrack geworden, mit dem ständig besoffenen Jelzin wurde sie zur folgsamen Marionette in den Händen ihrer mächtigen Gegner. Bis Putin kam. Ganz abgesehen davon, was er sonst darstellt – besonders gerade jetzt – doch ab 2000 rettete er im letzten Moment das, was noch geblieben war, baute es konsequent wieder auf, auch die Streitkräfte, womit Rußland zu einer zunehmend starken Barriere gegen die weitere Expansion des Westens wurde und neuerdings zum Verbündeten und Schutzfaktor für das nächste, stärkere Feindbild des Pentagon: China.
In Richtung Moskau rückten die mit Raketen gerüsteten Kräfte immer näher, zumeist, entgegen ihren Versprechungen, in der NATO organisiert. Erst Ostdeutschland, dann Polen, Ungarn, Tschechien, die Slowakei, Ungarn, das Baltikum-Trio, die Balkanländer außer Serbien, womöglich noch Georgien. Es fehlten Belarus und vor allem die Ukraine, um die Schlinge um das europäische Rußland fast völlig zuschnüren zu können. Kiew zögerte, die Beziehungen mit Rußland waren wirtschaftlich günstiger. Doch der Druck stieg. Fünf Milliarden Dollar von Victoria Nuland und ihrem State Departments, plus eine Bande von Scharfschützen, Bewunderern des ukrainischen Faschisten und neuen Staatshelden Stepan Bandera, erwiesen sich 2014 als stärker. Der gewählte Präsident, der eine Balance zwischen Rußland und dem Westen anstrebte, kam durch eine eilige Flucht gerade noch lebend davon. Die Ukraine konnte – wie Polen und das Baltikum – zum Aufmarschplatz gegen Rußland ausgebaut werden.
Rußland, das so oft unter Invasionen litt, wollte keine Aufmarschplätze mehr an seinen Grenzen, auch die Russischsprechenden auf der Krim und in der Ost-Ukraine betrachteten sich als Russen und wollten nicht zwangsweise umgeschult werden. Ab 2014 sah Putin eine zunehmende Bedrohung durch die NATO. Alle Punkte seines Verhandlungsprogramms wurden von Washington von vornherein als »Non-Starter« abgelehnt. Beschloß er deshalb, daß eine Offensive die beste Verteidigung sei? Wollte er zudem einen schwächelnden Rückhalt in Rußland selbst geradebiegen (was aber leicht nach hinten losgehen kann)? Das wissen wir nicht; wir wissen nur, daß er Soldaten, Raketen und Panzer in die Ukraine schickte – ebenso inhuman und völkerrechtswidrig wie die Invasionen der USA gegen die Philippinen, den Irak, Libyen und unzähligen USA-Interventionen seit über hundert Jahren, bis hin zur Abtrennung des Kosovo von Serbien 2008.
Jedenfalls machte Putin dabei, wie ich tieftraurig meine, einen tragischen, blutigen Fehler. Ohne einen überzeugenden Beweis für unmittelbare Aggressionspläne der Westmächte sehe ich absolut keine Entschuldigung, nicht mal eine echte Erklärung für diese Entscheidung, die nunmehr von fast allen Ländern der Welt abgelehnt oder verurteilt wird.
Was hat nun diese Entscheidung schon gekostet – die Ukrainern am meisten, doch nicht sie allein! Die Kriegslüsternen in aller Welt vergießen Krokodilstränen, doch hinter den Taschentüchern lächeln sie froh, denn die mühevollen Versuche von Friedensanhängern um diplomatische Annäherung, um das, was einst als »Detente« und »Rapprochement« gepriesen wurde, sind nun wohl um Jahre zurückgedrängt. Jene Kräfte in Deutschland, ob im Interesse des Friedens oder der Profite, die sogar im neuen Kabinett zögerlich auf Warenhandel statt auf Kriegshandlungen zu setzen schienen, sind nunmehr umgedreht, auch die Kreidestimmen sind wieder rau geworden.
In Deutschland, auch in den USA und anderswo wird der Kampf um die Rechte der Arbeiter, Farmer, Rentner und Kinder geschwächt. Schulen, Kliniken, bezahlbare Wohnungen? Ja, gewiß – doch die »Verteidigung«, die »Sicherheit« haben Vorrang. Nur dafür öffnen sich die Geldquellen ganz weit.
Besonders traurig ist, wie Linke gespalten wurden. Manche, meist ältere, verweisen auch auf die Versuche, Rußland am Schwarzen Meer einzukreisen, neuerdings mit britisch-gebauten Flottenstützpunkten. Sie erinnern daran, daß nicht nur die Ukraine durch Nazi-Deutschland litt, sondern die ganze Sowjetunion, daß mehr als 27 Millionen Menschen starben – sowohl Ukrainer als auch Russen, Belarussen und Angehörige Dutzender Völker und Nationalitäten der Sowjetunion. Diese Leute fragen anklagend, warum man duldet, daß NATO-Manöver in Litauen, Lettland und Estland stattfinden, fast in Sichtweite von St. Petersburgs Türmen, und sicher unter dem Befehl von Urenkeln von Offizieren, die einst Leningrad erfrieren und verhungern ließen.
Andere, oft jüngere, lehnen solche Bedenken ab. Egal, wer ihn führt, Krieg ist ein Verbrechen! Basta! Kein Putin hat das Recht, die Kinder anderer Menschen sterben zu lassen, weder Ukrainer noch Russen.
Eine weitere Gruppe schwankt. Es ist richtig, Lebensmittel, Kinderkleidung, vielleicht auch Waffen »solidarisch« in die Ukraine zu schicken. Aber wo sind derartig gefüllte Lastwagen für den Jemen, nach fünfzehn Jahren des Kindermordens? Oder für Gaza? Profitabler sind gewiß Waffenverkäufe nach Saudi-Arabien oder in die Emirate. Und wo bleiben die Prozesse gegen Bush wegen Irak, oder Obama wegen Libyen, oder Trump wegen Soleiman, oder Biden, der zu all den Kriegen Ja gesagt und dafür gestimmt hatte, auch 2014 zum faschistisch-verseuchten Putsch in Kiew?
So streitet man hier – und die Menschen dort leiden und sterben weiter. Völlig einig dagegen und erfreut über die ganze Tragik sind Lockheed, Northrop-Grumman, Rheinmetall und Krupp, die nach jeder Erhöhung des Kriegsbudgets klatschen – noch 2 Prozent, 3 Prozent, Jets, Fregatten, bewaffnete Drohnen, mehr Rüstung!! Es kann nicht teuer genug sein – und wer wagt heute, dagegen zu stimmen? Nur – fast ignoriert – eine kleine mutige Zahl. Derweil träumen hinter den Waffenherstellern manche andere schon von dem, was ihnen offen stehen könnte, wenn Putins Krieg doch radikal nach hinten losgeht: Cargill und Bayer, BASF und Quandt, Facebook und Amazon schauen auf Landkarten, die von Smolensk bis Wladiwostok reichen. Solche Leute hegen selten Zweifel. Sie wissen, was sie wollen! Und neben ihnen will ich nicht demonstrieren – das sind nicht meine Verbündeten!
Anders als sie habe ich bittere Zweifel! Warum nur mußte Putin diesen blutigen Weg einschlagen, der so viele Opfer kostet und so viele jahrelange Mühen zunichtemacht, und spaltet? Uns bleibt nur übrig, so gut wie möglich – und trotz alledem – den mühevollen Weg weiter fortzusetzen, um Kriege zu stoppen, zu verdammen und verhindern, Verhandlungen und Abrüstung zu fordern und zu erkämpfen, um irgendwann einen echten Frieden zu erreichen.