Ein Papst, der für Frieden und Völkerverständigung eintritt
Franziskus hält am Zölibat fest, brach aber in vielen Fragen mit reaktionären Traditionen der katholischen Kirche
Im Jahr 2013 befand sich die katholische Kirche in einer tiefen Krise, in die sie ihre bis dahin reaktionärsten Oberhäupter, der Pole Karol Wojtyla als Johannes Paul II. und sein Nachfolger, der deutsche Joseph Ratzinger als Benedikt XVI., gestürzt hatten. Jahr für Jahr verließen Hunderttausende die Kirche. In dieser Situation kündigte der am 19. April 2005 zum Oberhaupt der katholischen Kirche gewählte Joseph Ratzinger nach nur acht Jahren Amtszeit als Benedikt XVI. seinen Rücktritt an.
Während Ratzinger dafür gesundheitliche Probleme anführte, meinten Vatikan-Kenner, unter den Kardinälen, die im Konklave einen Nachfolger wählen mußten, hätten selbst konservative Anhänger Benedikt zum Rücktritt gedrängt, um die Krise aufzuhalten.
Am 13. März 2013 wählte dann das Konklave den Erzbischof von Buenos Aires, Kardinal Jorge María Bergoglio, zum 266. Bischof von Rom und damit zum Oberhaupt der katholischen Kirche, der gleichzeitig Staatschef des Vatikanstaates ist.
Bei der Wahl des damals 76-Jährigen setzten die Kardinäle im Konklave sicher auf dessen Image, das für Widerstand gegen soziale Unterdrückung und das Eintreten für die Ärmsten stand. Und der erste Amerikaner an der Spitze der katholischen Kirche hatte auch noch italienische Wurzeln – der Vater war aus Italien eingewandert und arbeitete bei der Eisenbahn –, sprach Deutsch und war damit für die europäischen wahlberechtigten Kardinäle ein akzeptabler Kandidat.
Jorge Bergoglio nahm als erster Papst der Kurie den Namen Franziskus an und wollte damit zeigen, daß er dem Heiligen Franz von Assisi nacheifern will. Hinzu kam, daß Bergoglio dem einflußreichen Jesuiten-Orden angehörte, der ihn 1969 zum Priester geweiht hatte. Dem weltgrößten Männerorden, der offiziell »Gesellschaft Jesu« heißt, war er im Jahr 1958 beigetreten. Er gelobte damit, arm und keusch zu leben und diente einem Orden, der vor allem in der Seelsorge, der Bildungsarbeit und der Entwicklungshilfe tätig ist.
Nur vier Jahre später, mit 36 Jahren, ernannten ihn die Jesuiten zum Provinzial und damit führenden Kopf des Ordens in Argentinien. 1992 wurde er zum Bischof, 1997 zum Erzbischof von Buenos Aires und 2001 zum Kardinal ernannt.
Für die konservativen Kardinäle im Konklave dürfte auch in Betracht gekommen sein, daß Jorge Bergoglio vorgeworfen wurde, während der von 1976 bis 1983 dauernden Militärdiktatur in Argentinien eine zurückhaltende Haltung gegenüber dem brutalen faschistischen Regime eingenommen zu haben. Seine Anhänger machten geltend, damit habe er »Leben gerettet«.
»Kardinal der Armen«
In Argentinien galt Jorge Bergoglio als ein »Kardinal der Armen«. Er besaß kein Auto, ging zu Fuß oder fuhr mit dem Bus durch Buenos Aires und hatte dort eine bescheidene Wohnung. Aber er liebte die Oper und war leidenschaftlicher Anhänger von San Lorenzo, einem von einem Priester gegründeten argentinischen Erstliga-Fußballverein.
Am 13. April 2013, einen Monat nach seiner Wahl zum Papst, gab Franziskus die Bildung einer Arbeitsgruppe aus acht Kardinälen der fünf Kontinente bekannt, die das »Projekt einer Kurienreform« studieren und ihm »bei der Regierung der Weltkirche behilflich« sein sollten. In einem Chirograph, einer Päpstlichen Mitteilung vom 28. September 2013 präzisierte Franziskus die Arbeitsgruppe offiziell als »Kardinalsrat«, und »ständiges Beratungsorgan«, mit dem er, wie der Vatikan-Kenner Marco Politi schrieb, Voraussetzungen schaffen wolle, »das Modell einer absoluten Monarchie zu überwinden und der Kirche eine gemeinschaftliche Struktur zu geben, in der die Episkopate mitentscheiden können, welche Strategien die Kirche in der gegenwärtigen Epoche verfolgen soll und wie der Glaube in der heutigen Gesellschaft gelebt werden kann«.«
Vatikan-Sprecher Federico Lombardi machte am 30. September 2013 Einwände geltend, die Gruppe sei »ein reines Beratergremium für den Papst und hat keine Entscheidungsbefugnis.
Hoffnungen auf Reformen
Die Verkündung einer Reform, die die zwei Jahrtausende alte absolutistische Herrschaftsstrukturen der Papstmonarchie und die Dogmen der katholischen Kirche in Frage stellen sollte, gab der geradezu euphorischen Welle der Begeisterung für Franziskus weiteren Auftrieb. In der gut etwa 1,2 Milliarden Mitglieder zählenden Weltkirche sahen viele ihn als »Reformer« oder gar »sozialen Revolutionär«, der zu der tiefgehenden Wende zurückkehrt, die von Johannes XXIII. mit dem II. Vatikanischem Konzil (1962/63) eingeleitet, aber von Franziskus' Vorgängern, Johannes Paul II. und Benedikt XVI. rückgängig gemacht wurde.
Betrachten wir an Hand der Fakten, welche Korrekturen Franziskus vorgenommen und ob er damit bereits Reformen eingeleitet hat. In den Blickpunkt geraten dabei seine Haltung gegenüber Befreiungstheologen Lateinamerikas, seine Kritik an sozialen Auswüchsen des Kapitalismus, die Aufmerksamkeit, die er den Ärmsten und von diesem System ausgegrenzten und unterdrückten Menschen widmet.
Er setzte progressive Zeichen in der großen Politik, wenn er vor den Gefahren eines Dritten Weltkrieges warnte, den Staat Palästina offiziell anerkannte oder 2019 den verfemten russischen Präsidenten Putin empfing, ohne den Anschluß der Krim zu verurteilen. Von kirchlichen Würdenträgern forderte er Bescheidenheit, legte sich mit der Mafia an und brach gegenüber Homosexualität oder Frauenpriestertum mit der vor ihm üblichen Verdammung und mahnte stattdessen Barmherzigkeit und Mitleid an. Das und die ungezwungene Art, mit der er den Gläubigen gegenübertritt, hebt ihn in sympathischer Weise von seinen engstirnigen, offen reaktionären Vorgängern, hervor.
Abkehr von fanatischer Verfolgung der Befreiungstheologen
Am 23. Mai 2015 sprach Franziskus einen der führenden Befreiungstheologen Lateinamerikas, den 1980 von der faschistischen »Escuadrón de la Muerte« ermordeten Erzbischof von San Salvador, Óscar Arnulfo Romero y Galdámez, selig. Die 1990 von der Diözese von San Salvador eingeleitete Beatifikation war von Johannes Paul II. und seinem damaligen Chef der Glaubenskongregation, Kardinal Joseph Ratzinger ignoriert worden.
Franziskus wollte sich absichern und ließ erklären, die Seligsprechung bedeutete keine Anerkennung der Befreiungstheologie als einer von den Dogmen der katholischen Kirche abweichenden Sicht, sondern, weil Bischof Romero von den Todesschwadronen »aus Haß auf den Glauben« getötet worden sei. Das änderte – und so sahen es auch die kritischen Katholiken des Kontinents, die etwa die Hälfte der Gläubigen Roms bilden – nichts an der Tatsache, daß der Papst einen Kirchenführer ehrte, der die Nationale Befreiungsfront »Farabundo Martí« (FMNL) unterstützt und offen verkündet hatte, daß es nicht gegen Gottes Gebot verstoße, sich »auch mit den Mitteln der Gewalt gegen Repression zur Wehr zu setzen«. Im Oktober 2018 folgte die Heiligsprechung Romeros.
Während eines Besuches bei dem ersten indigenen und dazu noch sozialistischen Präsidenten Lateinamerikas, Evo Morales, der auch Vorsitzender der sozialistischen Partei Movimiento al Socialismo (MAS) und Führer der Bewegung für die Rechte der Coca-Bauern war, in Bolivien im Juli 2015, forderte Franziskus »ein Ende von Ausbeutung und Unterdrückung« und erklärte, das kapitalistische System sei »weder für landlose Bauern noch für Arbeiter, weder für indigene Gemeinschaften noch für die Mehrheitsbevölkerungen in den Staaten Lateinamerikas noch für die Erde selbst länger zu ertragen«.
Die »New York Times« fragte, ob Franziskus etwa eine »soziale Revolution« unterstütze. Dann entschuldigte sich das Oberhaupt der katholischen Kirche auch noch für »die Straftaten, die während der sogenannten Eroberung von Amerika verübt wurden« und bat »demütig um Vergebung«. Damit stehe er »in starkem Kontrast« zu seinem Vorgänger Benedikt XVI., vermerkte die »Neue Zürcher Zeitung«. Dieser hatte 2007 in Brasilien die barbarischen Verbrechen der Kolonisatoren geleugnet und behauptet, die Völker Südamerikas hätten ihre Missionierung »still herbeigesehnt« und ihre Bekehrung sei »ganz friedlich« verlaufen. Auch nach Massenprotesten hatte er sich nicht entschuldigt, sondern nur »bedauert«, daß es dabei zu Gewalttaten gekommen sei.
»Bruder Papst«
Im Juni 2018 empfing Franziskus den Präsidenten Boliviens im Vatikan. Evo Morales war anläßlich der Kardinalsernennung des bolivianischen Bischofs Toribio Ticona Porco nach Rom gekommen. Nach der Begegnung mit Franziskus sagte Morales auf Spanisch »Danke, Bruder Papst«, Franziskus entgegnete, ebenfalls auf Spanisch, »Willkommen«, dann umarmten sich beide, berichtete die »Katholische Sonntagszeitung« am 3. Juli.
Der Vatikan teilte nach der Begegnung mit, Thema der »herzlichen Gespräche« seien die guten gegenseitigen Beziehungen sowie eine »Aktualisierung der bilateralen Abkommen« gewesen. Präsident Morales überreichte dem Papst ein von bolivianischen Künstlern handgearbeitetes Schachbrett mit Figuren aus Holz. Franziskus überreichte ein Medaillon, das einen Friedensengel zeigt, mit den Worten: »Dies ist der Friedensengel, der den Kriegsteufel in Ketten legt. Es geht um Frieden zwischen den Ländern.« Dazu erhielt Morales Schriften des Papstes, darunter ein Dokument zum Weltfriedenstag, das Franziskus persönlich unterschrieben hatte. Am Ende verabschiedeten sich beide wieder mit einer Umarmung.
2019 folgte die Rücknahme der gegen den Priester Ernesto Cardenal 1983 verhängten Verurteilungen, nachdem dieser in der sandinistischen Regierung in Nikaragua das Amt des Kulturministers übernommen hatte.
»Mit Waffen zerstört man jede Hoffnung auf Frieden«
Aktiv engagiert sich Franziskus für die Beendigung von kriegerischen Konflikten, warnt vor den Gefahren eines Dritten Weltkrieges und ruft zu friedlichen Lösungen auf. Mit Blick auf die blutigen Kämpfe im Sudan und den Krieg in der Ukraine appellierte er am 23. Mai 2023 nach dem Mittagsgebet Regina Coeli vor mehr als 25.000 Gläubigen auf dem Petersplatz in Rom, sich nicht an Konflikte und Gewalt zu gewöhnen und rief die internationale Gemeinschaft auf, »keine Mühen zu scheuen, um dem Dialog zum Durchbruch zu verhelfen und das Leid der Bevölkerung zu lindern«.
Bei dieser Gelegenheit hat er erneut den Einsatz von Waffen zur Lösung von Konflikten auf der Welt scharf kritisiert. »Mit Waffen erreicht man nie Sicherheit und Stabilität, im Gegenteil: Man zerstört jede Hoffnung auf Frieden.« Franziskus hatte kurz zuvor über die Gefechte zwischen Israelis und Palästinensern im Gaza-Streifen gesprochen und die Hoffnung geäußert, daß die Waffenruhe dort anhalten werde.
Einen Tag zuvor waren bei einer Audienz des Papstes für den ukrainischen Präsidenten Selensk die Differenzen zwischen der Haltung des Papstes und den Wünschen von Kiew deutlich geworden: Der Heilige Stuhl bietet sich als Vermittler für einen möglichen Waffenstillstand an – dies lehnte Selenski deutlich ab.
Der ukrainische Präsident erlaubte sich sogar, den Papst öffentlich zu rüffeln: »Die Sache ist die, daß wir keine Vermittler brauchen zwischen der Ukraine und dem Aggressor, der unsere Gebiete besetzt hat, sondern einen Aktionsplan für einen gerechten Frieden in der Ukraine«, sagte Selenski am Abend in der TV-Show »Porta a Porta« des Senders Rai 1. Darüber hinaus forderte Selenski den Papst auf, sich dem sogenannten »Friedensplan« von Kiew anzuschließen, der eine Kapitulation Rußlands als Vorbedingung für Gespräche nennt.
»Verhandlung ist niemals Kapitulation«
Im März 2024 wurde er in einem Interview mit dem schweizerischen Sender RSI noch deutlicher. Im Interview wird der Papst konkret gefragt: »In der Ukraine gibt es diejenigen, die zum Mut der Kapitulation, zur weißen Fahne aufrufen. Aber andere sagen, daß dies den Stärksten legitimieren würde. Was sagen Sie dazu?«
Die Antwort des Oberhaupts der katholischen Kirche: »Das ist eine Interpretation. Aber ich denke, daß derjenige stärker ist, der die Situation sieht, der an das Volk denkt, der den Mut der weißen Fahne hat, den Mut zu verhandeln. Und heute kann man mit Hilfe der internationalen Mächte verhandeln. Das Wort verhandeln ist ein mutiges Wort. Wenn man sieht, daß man besiegt ist, daß die Dinge nicht laufen, muß man den Mut haben, zu verhandeln.«
Auch im Zusammenhang mit dem Krieg in Gaza habe er über die Lage nachgedacht, sagt der Papst. »Verhandlung ist niemals Kapitulation. Es ist der Mut, das Land nicht in den Selbstmord zu führen.«
Während seiner jüngsten Asienreise im September warb er in Indonesien – mit 240 Millionen das bevölkerungsreichste muslimische Land der Welt, bei nur acht Millionen Katholiken – für einen engeren Dialog zwischen den Religionen. »Auf diese Weise können Vorurteile abgebaut werden und ein Klima gegenseitigen Respekts und Vertrauens entstehen, das für die Bewältigung gemeinsamer Herausforderungen unabdingbar ist«, sagte der Papst bei einem Treffen mit Präsident Joko Widodo in der Hauptstadt Jakarta.
Im Inselstaat Papua-Neuguinea, einer weiteren Station seiner Reise, kritisierte er, daß internationale Konzerne bei der Nutzung der Bodenschätze die Bedürfnisse der lokalen Bevölkerung – wie deren Verbesserung der Lebensbedingungen – nicht berücksichtigen.
Unterstützung für »Tax the Rich«
Um Fragen der sozialen Gerechtigkeit ging es dem Papst auch bei einem Treffen am 20. September in einem Vatikan-Gebäude im römischen Stadtteil Trastevere. Franziskus ging unter anderem auf das Phänomen Reichtum und Ausgrenzung ein und stellte sich hinter die zuletzt etwa von der Initiative »Tax the Rich« erhobene Forderung, »Superreiche höher zu besteuern«, berichtete die »Katholische Nachrichtenagentur« (KNA) am 21. September.
Überproportionaler Reichtum habe oft wenig mit Verdienst und Gehältern zu tun, so der Papst. Viele große Vermögen seien geerbt, andere das Ergebnis von Ausbeutung, Steuerhinterziehung oder auch blutiger Formen von Kriminalität. Franziskus warnte vor einem mit Reichtum gepaarten Hochmut, den er als Vorstufe der Gewalt darstellte.
»Von oben auf andere herabschauen. Mit Gleichgültigkeit schauen. Mit Verachtung schauen. Mit Haß schauen. So wird Gewalt geboren. So entsteht das Schweigen der Gleichgültigkeit, welches das Brüllen des Hasses ermöglicht.« Die soziale Spaltung öffne den Weg zu verbaler Gewalt, diese zu physischer Gewalt, und am Ende stehe der Krieg jeder gegen jeden, führte Franziskus aus.
Mit Spannung wird nun in Rom erwartet, was die von Franziskus 2021 einberufene Weltsynode, die mit ihrer letzten Tagung, die am 2. Oktober beginnt, zu Ende geht, zu dem von ihm zum Amtsantritt verkündeten »Projekt einer Kurienreform« bringen wird. An den Beratungen nehmen rund 380 Männer und Frauen aus allen Erdteilen teil, mehr als 270 davon sind Bischöfe. Erstmals in der Kirchengeschichte sind auch Frauen bei der Synode mit Stimmrecht dabei. Nur Vorschläge, die eine Zweidrittel-Mehrheit erhalten, werden am Ende dem Papst zur Entscheidung vorgelegt. Trotz dieser für katholische Verhältnisse fast schon revolutionären Rahmenbedingungen erwarten Beobachter zunächst keine sensationellen Entscheidungen bei bestimmten inhaltlich strittigen Fragen wie Zölibat oder Zulassung von Frauen zu kirchlichen Ämtern.