»Näher denn je seit der Kubakrise«
Die NATO übt in ihrem aktuellen Atomkriegsmanöver »Steadfast Noon« den Einsatz von US-amerikanischen Nuklearwaffen. Atomstützpunkte in Europa werden modernisiert. Gefahr eines Atomkriegs gilt als „größer“ denn je seit der Kubakrise
Die NATO veranstaltet gegenwärtig ihr Atomkriegsmanöver »Steadfast Noon« gestartet und verschärft damit die ohnehin weiter steigenden Spannungen mit Rußland. Zwar gibt die NATO kein konkretes Manöverszenario bekannt. Doch hieß es im vergangenen Jahr bei »Steadfast Noon 2023«, man sei bestrebt, »auf realistische Weise zu üben«, und man habe daher die Fähigkeiten des Feindes, den man in der Übung atomar angreife, den Fähigkeiten der russischen Streitkräfte nachempfunden.
In einem im Frühjahr publizierten Fachbuch heißt es, das Potenzial eines Atomkriegs sei zur Zeit »größer« denn je seit der Kubakrise – auch, weil das »Bewußtsein für eine nukleare Bedrohung« schwinde.
»Steadfast Noon«
Die NATO hat am Montag ihr diesjähriges Atomkriegsmanöver »Steadfast Noon« gestartet. An der zweiwöchigen Übung sind ungefähr 2.000 Soldaten aus 13 Staaten mit rund 60 Luftfahrzeugen beteiligt. Die deutsche Luftwaffe stellt Kampfjets der Modelle Tornado und Eurofighter sowie Transportflugzeuge A400M bereit. Andere Streitkräfte entsenden zum Beispiel US-amerikanische Kampfjets der Modelle F-16 und F-35 sowie Langstreckenbomber B-52 (USA) oder auch Gripen-Jets (Tschechien).
Die NATO weist darauf hin, daß die Niederlande mit F-35-Jets teilnehmen, die in diesem Jahr offiziell für fähig erklärt wurden, Atomwaffen einzusetzen. Die Hauptübungsgebiete sind die Niederlande und Belgien sowie Lufträume über der Nordsee, vor allem dänisches und britisches Hoheitsgebiet. Die Niederlande sowie Belgien wurden ausgewählt, weil dort – wie auch in Deutschland (in Büchel, in der Nähe der Grenze zu Luxemburg), Italien und der Türkei – US-amerikanische Atombomben eingelagert sind.
Eingesetzt werden sollen sie im »Ernstfall« im Rahmen der sogenannten nuklearen Teilhabe; niederländische, belgische, deutsche, italienische oder türkische Kampfjets brächten sie dann an den Einsatzort. Beobachter weisen darauf hin, daß erstmals Finnland an »Steadfast Noon« teilnimmt, also nur rund eineinhalb Jahre nach seinem Beitritt zur NATO gleich für den Atomkrieg übt.
»Auf realistische Weise üben«
Die NATO behauptet wie üblich, die Übung richte sich nicht gegen einen bestimmten Staat. Anders als im vergangenen Jahr hat das Militärbündnis über das konkrete Kriegsszenario, das es erprobt, nicht informiert. Im Jahr 2023 hatte die NATO dies erstmals getan und bei einem Exklusivgespräch mit gut vernetzten Journalisten dreier Zeitungen einige Details zu »Steadfast Noon 2023« bekanntgegeben. Da man bemüht sei, »auf realistische Weise zu üben«, habe man – das ergab sich aus dem Gespräch – die Fähigkeiten des Feindes, gegen den im Manöver Atomwaffen eingesetzt werden sollten, den Fähigkeiten der russischen Streitkräfte nachempfunden.
Die Übungseinsätze fänden, so hieß es, in einer »hoch umkämpften Umgebung« statt; deshalb habe man, um sicherzustellen, daß das atomar bestückte Flugzeug »sein Ziel erreicht und wieder sicher zurückkommt«, ein äußerst »umfassendes Paket in der Luft und am Boden« vorgesehen, etwa Begleitschutz mit Jagdflugzeugen oder mit Jets, die in der Lage seien, feindliche Radaranlagen zu erkennen und zu zerstören. Auch habe man eine Art »Stresstest« eingebaut; es komme »zu simulierten Ausfällen«. Das erinnert daran, daß auch bei Atomangriffen eine Menge schiefgehen kann – mit womöglich verheerenden Konsequenzen für das eigene Land.
Mehr Geheimhaltung
»Steadfast Noon 2024« findet, wie eine Analyse der Federation of American Scientists (FAS) festhält, in einer Zeit statt, in der mehrere Atomstützpunkte in NATO-Ländern Europas umfassend modernisiert werden – darunter Büchel (Deutschland), aber auch die beiden Stützpunkte, die nun im Zentrum der diesjährigen Atomkriegsübung stehen: Kleine Brogel (Belgien) und Volkel (Niederlande). Dort werden laut einem Bericht der gewöhnlich gut informierten »Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung« (FAS) vom 14. Oktober jeweils Anlagen errichtet, die eine schnellere Versorgung mit Ersatzteilen oder auch einen rascheren Transport der Bomben ermöglichen und zugleich alle Operationen auf den Basen noch besser gegen Einblicke von außen abschirmen als zuvor.
Die »FAS« berichtet, im Lauf des vergangenen Jahres seien die Atomstützpunkte außerdem auf Google Earth unkenntlich gemacht worden – ein Element zunehmender Geheimhaltung, die mit dem dramatischen Anwachsen der politischen wie auch der militärischen Spannungen einhergeht.[4]
Mehr Bomben aus den USA
Zudem richtet die »FAS« die Aufmerksamkeit darauf, daß Britannien an »Steadfast Noon 2024« teilnimmt, während zugleich an der ehemaligen US-amerikanischen Atomwaffenbasis Lakenheath nordöstlich von Cambridge umfangreiche Arbeiten vorgenommen werden. In Lakenheath gab es in der Zeit des Kalten Kriegs einen bedeutenden Atomstützpunkt der USA, an dem wohl 100 US-amerikanische Atombomben lagerten. Die letzten davon waren im Jahr 2008 abgezogen worden.
Jetzt sind die USA dabei, die dortigen Anlagen zu renovieren; laut einem Bericht der »Times« vom 23. April 2024 wird darauf hingearbeitet, in Lakenheath wieder Kernwaffen zu stationieren. Details sind noch nicht bekannt. Die »FAS« weist allerdings darauf hin, daß die Kapazitäten der Anlagen, die offenbar in Lakenheath renoviert und modernisiert werden, der Zahl der Bomben entspricht, die im türkischen İncirlik eingelagert sind. Der Verbleib der dortigen Bomben ist aufgrund der politischen Entwicklung in der Türkei ungewiß. Laut »FAS« käme Lakenheath als Ersatzstandort in Betracht.
Das Potenzial eines Atomkriegs
Das NATO-Atomkriegsmanöver »Steadfast Noon 2024« findet in einer Zeit rasant eskalierender Spannungen zwischen dem Westen und Rußland statt. Dabei sind nicht nur die Notfalldrähte zwischen Washington und Moskau erheblich schlechter als in den 70er und 80er Jahren im Kalten Krieg – was die Gefahr eines durch Mißverständnisse ausgelösten Atomkriegs beträchtlich erhöht.
Es habe auch ganz allgemein »das Bewußtsein für eine nukleare Bedrohung ... an Brisanz verloren«, urteilt die Journalistin Annie Jacobsen im April 2024 im deutschen »Handelsblatt«, die in einem im Frühjahr erschienen Buch vor der Gefahr eines Atomkriegs warnt.
Darüber hinaus sei aufgrund der größeren Anzahl von Atommächten, aber auch aufgrund der weiterentwickelten Technologie die Lage mehr oder weniger »unkontrollierbar« geworden – »und das Potenzial eines Atomkriegs ist größer, als es je war seit der Kubakrise«, schreibt Jacobsen, damit USA-Präsident Joe Biden zitierend. Statt energisch Abrüstungsgespräche einzufordern – Jacobsen konstatiert: »Die Hoffnung ist die Diskussion« –, verstärkt die NATO den nuklearen Druck und führt nun auch in diesem Herbst ihre Atomkriegsübung Steadfast Noon durch.