Ausland27. August 2020

Kräftemessen um Flüchtlinge

Regionalregierung Siziliens und Lega bringen Konflikt um »Flüchtlingsabwehr« zum »Weißglühen«. Conte-Regierung wird Opfer ihrer Inkonsequenz

Vor dem für den 6. Oktober angesetzten ersten Prozeß gegen den früheren Innenminister und Chef der faschistischen Lega, Matteo Salvini, wegen der Flüchtlingsabwehr (Freiheitsberaubung und Amtsmißbrauch im Fall des Rettungsschiffes »Gregoretti«) spitzen sich die Auseinandersetzungen in der Flüchtlingsfrage »zum Weißglühen« zu, schreibt die Nachrichtenagentur ANSA am Mittwoch. Danach hat der Chef der Regionalregierung von Sizilien Sebastiano »Nello« Musumeci, ein Parteigänger der faschistischen Forza Italia (FI) Berlusconis, »befohlen«, alle vorhandenen Hotspots und Empfangszentren für Flüchtlinge zu schließen und eine Luftbrücke zur sofortigen Rückführung zu aktivieren.

Anlaß war, daß von dem Schiff »Aurelia«, das als Quarantäne-Unterkunft für Migranten dient, Flüchtlinge in Augusta auf Sizilien landen durften. 58 von ihnen seien positiv auf das Coronavirus getestet worden, so Musumeci. »Kein Migrant« dürfe die Region mehr betreten, durchreisen oder dort Station machen. Dies gelte auch für sämtliche kleine oder große Flüchtlingsschiffe, einschließlich der Rettungsschiffe von Hilfsorganisationen. Die »hygienischen Anforderungen und die Anti-Covid-Vorschriften« würden nicht eingehalten, die »nationale Regierung« habe die geltenden Dekrete – die unter Salvini als Innenminister angenommen und bis heute von der neuen Regierung Conte mit den Sozialdemokraten der PD und M5S nicht zurückgenommenen wurden – nicht umgesetzt und die Häfen nicht geschlossen.
Der regionale Regierungschef führte an, daß allein im Juli 7.067 Flüchtlinge eingetroffen seien. Von Anfang bis Mitte August hätten weitere 3.000 Personen Sizilien und Lampedusa erreicht. Im Vergleichszeitraum 2019, als Lega-Chef Matteo Salvini Innenminister war, habe die Zahl der Ankünfte bei 2.354 gelegen.

Er wolle sehen, ob die Regierung in Rom »meinen Befehl in Frage stellt«. Das ist laut ANSA prompt geschehen, denn das von der parteilosen Luciana Lamorgese geleitete Innenministerium erklärte, die Entscheidungen habe nicht die Region zu treffen. Sie seien »ungültig«. Es seien, so die Ministerin, »umfassende Maßnahmen zum Schutz der öffentlichen Gesundheit und Sicherheit getroffen« worden. »Nur Migranten, die negativ getestet wurden«, dürfen aus dem Schiff aussteigen. Covid werde durch Touristen, die durch die Straßen spazieren, in die Region gebracht. Die Verordnung sei »unmenschlich« und richte bei der Wirtschaft Siziliens und den Inselbewohnern »ernsthaften Schaden« an.

Der sizilianische Regierungschef konterte, er werde »die Angelegenheit vor Gericht bringen«. Lega-Chef Salvini stellte sich voll hinter Musumeci und drohte laut ANSA seinerseits, gegen die Regierung wegen »Beihilfe zur illegalen Einwanderung« Klage zu erheben.

Dabei toleriert die Regierung Conte in vielen Fragen nicht nur die Flüchtlingsabwehr, sondern trägt zu ihrer Forcierung regelrecht bei. Dazu gehörte die Verlängerung des Abkommens zur Ausrüstung und Finanzierung der libyschen Küstenwache, die Flüchtlinge gewaltsam in die Internierungslager zurückbringt. Im Juni führte Italien mit der Türkei gemeinsame Militärmanöver zur Flüchtlingsabwehr vor Libyen durch. Zuletzt sind in der zweiten Augusthälfte bei der Havarie eines Flüchtlingsbootes vor der libyschen Küste wieder mindestens 45 Menschen ertrunken, darunter mehrere Kinder, ohne daß die davon informierte Küstenwache der libyschen »Einheitsregierung« Rettungsmaßnahmen ergriffen hätte.

Nachdem rund 40 Prozent der in Sizilien eintreffenden Flüchtlinge aus Tunesien stammen, will Premierminister Conte dem Druck aus Brüssel nachgeben und mit der tunesischen Regierung ein Abkommen nicht nur zum Stopp, sondern auch zur Rückführung gelandeter Flüchtlinge durchsetzen. Falls Tunis nicht zustimme, werde eine zugesagte Hilfe von 6,5 Millionen Euro gestoppt, drohte Außenminister Di Maio bei den Verhandlungen in Tunis.

Der parteilose Jurist Conte wird Opfer seiner Inkonsequenz bei der Beseitigung des rassistischen Erbes der Regierung der M5S und der faschistischen Lega, der er vom Mai 2018 bis Juni 2019 vorstand. Das zu bewältigen hatte die danach mit M5S und den Sozialdemokraten des Partito Democratico (PD) gebildete Regierung versprochen, aber nicht gehalten. Seit November 2019 liegt dem Kabinett ein Beschluß zur Änderung der Sicherheitsdekrete vor, ist aber vor allem auf Betreiben der rechten Fraktion der M5S immer wieder verschoben worden. Wie aus Umfragen bekannt wurde, haben mehrere Parlamentarier der Sternepartei das abgelehnt, weil sie weiterhin den Kurs der Lega Salvinis gut heißen. Sie unterstützen »das Schüren von fremdenfeindlichen Einstellungen«, weil sich damit »Unzufriedenheit und Wut auf die Minderheiten lenken und damit Stimmen gewinnen lassen«, schätzte das Online-Portal »Aus Sorge um Italien« ein.

Wie sehr die Rechten in der Sternepartei inzwischen auf rechts gesinnte Wähler setzt, verdeutlichte, daß M5S-Gründer Grillo ein Gesetz zur Anerkennung der italienischen Staatsangehörigkeit für in Italien geborene Kinder von Migranten mit der Begründung ablehnte, dadurch bei Wahlen einen niedrigen Stimmenanteil abzusinken. Aber auch die PD, deren Sekretär Nicola Zingaretti bei der Regierungsbildung die Rückname der Dekrete zu einer »conditio sine qua non« erklärt hatte, duldete das, weil auch die eher rechtsorientierten Kräfte in der Partei befürchten, Wähler zu verlieren.

Der von der Regional-Regierung in Sizilien und Lega-Führer Salvini angeheizte Konflikt habe jetzt »das Klima zwischen Rom und der Region zum Weißglühen« gebracht, schrieb ANSA am Mittwoch. Eine Klärung scheint unter diesen Gesichtspunkten nicht in Sicht. Eher ein weiteres Nachgeben Contes.

Gerhard Feldbauer

Flüchtlinge kommen in Lampedusa auf Sizilien an (Foto: EPA-EFE/ELIO DESIDERIO)