Ausland27. November 2021

Deraa – Hoffnung auf Frieden

Spurensuche in Syrien

von Karin Leukefeld, Deraa

Wir warten auf einer Brücke vor der Kleinstadt Israa, unweit der Grenze nach Jordanien. Reger Verkehr wirbelt Staub auf, ein Konvoi von vier schwarzen Militärfahrzeugen mit verdunkelten Fenstern fährt an uns vorbei. Nur an den Wimpeln der Fahrzeuge ist zu erkennen, daß es sich um eine russische Patrouille handelt.

Ziel des heutigen Tages ist Deraa, die Hauptstadt der gleichnamigen Provinz im Südwesten Syriens. Anfang September wurde mit russischer Vermittlung für Deraa ein Waffenstillstand mit den bewaffneten Regierungsgegnern der ersten Stunde vereinbart. Tausende Männer haben ihre Waffen abgegeben und erklärt, nichts mehr gegen den Staat Syrien unternehmen zu wollen.

Weil Deraa noch unter militärischer Kontrolle liegt, werden Journalisten dort von einem Presseoffizier begleitet. Als Kontaktmann war mir der Presseoffizier Ali Oumran genannt, der in Israa stationiert ist. Telefonisch hatte er den Fahrer angewiesen zu warten, ein Auto werde uns abholen. Kurz darauf kommt ein großer Militärjeep. Der Soldat am Steuer winkt, daß wir folgen sollen. Nach einer kurzen Fahrt durch den Ort biegen wir auf eine weitläufige Militärbasis ein, wo der Presseoffizier sein Büro hat.

Bei einer Tasse Kaffee wird besprochen, was ich sehen will. »Das Versöhnungszentrum in Deraa«, sage ich und erkläre, daß ich mit Männern sprechen möchte, die die Versöhnungserklärung unterzeichnet haben. Dann möchte ich mit Leuten in der Stadt sprechen und mit der Armeeführung, um zu erfahren, wie der Waffenstillstand eingeschätzt werde. Schließlich möchte ich nach Deraa al-Balad, dem alten Teil der Stadt, wo 2011 die Proteste angefangen hatten. Ausgangspunkt damals war die Omari-Moschee, die möchte ich besuchen.

Presseoffizier Oumran erweist sich als guter Begleiter. Israa sei ein landwirtschaftliches Zentrum, erklärt er, als wir kurz darauf an einem mächtigen Getreidesilo vorbeifahren. »Hier links ist die Landwirtschaftskammer, dahinter liegen lebensmittelverarbeitende Betriebe.« Dann zeigt er auf eine Kirche und sagt: »Die Hälfte der Bewohner von Israa sind Christen.«

Wir fahren über schmale, teilweise beschädigte Landstraßen, rechts und links erstrecken sich Felder bis an den Horizont. »Sehen Sie dort hinten, die Solaranlagen?« Oumran zeigt auf große Gerüste mit Solarpanelen. »Die Bauern erzeugen jetzt ihren eigenen Strom, um Wasser auf die Felder zu pumpen«, sagt er. Doch es reiche nicht, überall fehle es an Strom.

Syrien sei reich an Obst und Gemüse und habe vor dem Krieg Lebensmittel bis in die Golfstaaten geliefert. Doch leider seien große Teile der zivilen Infrastruktur im Krieg teilweise auch gezielt zerstört worden. Stromleitungen, Umspannwerke, Wassertürme. Auch Fabriken für die Verarbeitung von Lebensmittel blieben nicht verschont. Der Waffenstillstand in Deraa sei von den Russen vermittelt worden, fährt Presseoffizier Oumran fort. 50 Dörfer im Umland der Provinzhauptstadt Deraa hätten direkt unterzeichnet. In Stadt sollten wir direkt zum Hauptquartier der Armee fahren, schlägt er vor. Dort würde ich mehr erfahren.

Der »Geburtsort der Revolution«

In westlichen Medien und von syrischen Oppositionellen wird Deraa bis heute als »Geburtsort der Revolution« bezeichnet. Dort lebte ein Junge, der im Frühjahr 2011 die zündende Parole gegen Präsident Baschar al Assad an die Mauer seiner Schule geschrieben haben soll. Dafür sei er dann mit seinen Freunden vom örtlichen Geheimdienst festgenommen und gequält worden, heißt es. Die Eltern habe man beleidigt.

Inzwischen existieren in zahlreichen ausländischen Zeitungen und Magazinen mindestens ein Dutzend verschiedene Geschichten darüber, die sich nicht mehr nachprüfen lassen. Eine Geschichte stammte von dem vielfach ausgezeichneten »Spiegel«-Starreporter Claas Relotius. Allerdings stellte sich heraus, daß sie – wie auch etliche andere »Werke« dieses Autors – in weiten Teilen erfunden war.

Ich erinnere mich an das Interview einer Reporterin des katarischen Nachrichtensenders Al Jazeera, die im Frühjahr 2011 über eine Demonstration in Deraa berichtete. Dabei fragte sie einen hageren Mann, ob er denn auch den Sturz des Regimes fordere. Nein, sagte der Mann nach einer kurzen Pause und schüttelte den Kopf. »Es geht nicht um Baschar. Wir wollen nur respektiert werden und wirtschaftlich unsere Rechte und unseren fairen Anteil erhalten.«

Was genau damals geschah, ist heute kaum noch zu rekonstruieren. Tatsache ist, daß nach der Festnahme der Kinder von der Omari Moschee im alten Teil von Deraa, auch Deraa al-Balad genannt, tägliche Proteste ausgingen. Rasch waren Tote zu beklagen, jeder Gang zum Friedhof wurde zu einem neuen und größeren Protestmarsch, erneut floß Blut. Eine Delegation unter Leitung des Scheichs der Omari Moschee wurde nach Damaskus zu einem Gespräch mit Präsident Assad eingeladen. Doch die getroffene Vereinbarung wurde nicht umgesetzt.

Der Waffenstillstand hält

Zehn Jahre später liegen weite Teile der Stadt Deraa in Trümmern. Auf den Straßen herrscht dennoch reger Verkehr, Passanten, vor allem Frauen und Kinder sind unterwegs. Wir fahren an einer Schule vorbei, die frisch gestrichen ist. Eine Mädchenschule, erklärt Oumran. Vielleicht könne ich später mit den Schülerinnen sprechen.

Im Hauptquartier der Armee sitzt Brigadegeneral Nazim Makhluf hinter einem sehr großen Tisch und steht auf, als wir hereinkommen. Lächelnd weist er auf die Besuchersessel, Fotos sind nicht erwünscht, dafür wird Kaffee und Obst serviert. Ohne Umschweife beginnt der General zu erklären. Der vom russischen »Zentrum für die Versöhnung der verfeindeten Seite in Syrien« vermittelte Waffenstillstand werde seit Anfang September eingehalten. Waffen würden abgegeben. Nur neun der Kämpfer hätten sich geweigert, ihre Waffen niederzulegen, erläutert General Makhluf. Diese Männer seien auf ihren Wunsch hin nach Idlib gebracht worden.

Makhluf ist Kommandeur der syrischen Armee in Deraa und sagt auf die Frage, ob dem neu gewonnenen Frieden zu trauen sei: »Die Menschen haben erlebt, daß die Staaten, die sie lange unterstützten, nun kein Interesse mehr an ihnen haben. Geld, Waffen, Munition, medizinische Versorgung und Lebensmittel gibt es nicht mehr.« Die syrische Armee sei auf die Bevölkerung zugegangen, der Staat habe Hilfe angeboten, die Schulen und Krankenhäuser seien wieder geöffnet. Alle seien des Krieges müde und wollten nur noch in Ruhe ihr Leben wieder aufbauen.

Ob Syrien denn den Nachbarstaaten Jordanien und Israel trauen könne, im Krieg die Aufständischen unterstützt hätten? »Wir nehmen zur Kenntnis, daß manche Staaten ihre Haltung Syrien gegenüber geändert haben oder dabei sind, sie zu ändern. Das respektieren wir«, sagt General Makhluf. Die schlechtesten Erfahrungen habe Syrien in den letzten zehn Jahren allerdings mit Israel, der Türkei und den USA gemacht. »Sie respektieren das Völkerrecht nicht«, so der General. Partner könnten sie nicht sein.

Neue Ausweise im Versöhnungszentrum

In einem Versöhnungszentrum im ausgebrannten Gerichtsgebäude im Zentrum der Stadt können junge Männer, die desertiert oder im Gebiet unter Kontrolle der bewaffneten Aufständischen geblieben waren, sich neu registrieren lassen. Ein Offizier erläutert das Verfahren, an dem militärische und zivile Richter beteiligt sind. Die Männer unterzeichnen eine Erklärung, in der sie versichern, alles zu tun, um Syrien sicher zu machen und beim Wiederaufbau zu helfen. Wenige Tage später können sie sich dann einen Ausweis des Versöhnungszentrums abholen, der ihnen wie ein Personalausweis in ganz Syrien Bewegungsfreiheit gibt. Er sei froh, mit den letzten Jahren abgeschlossen zu haben, sagt einer der Männer, der stolz seinen Ausweis zeigt. »Aber ich brauche Arbeit, wir müssen essen!«

Es ist Mittagszeit. Die Schule ist aus und ganze Schulklassen von Mädchen strömen über die Straßen. Fast alle tragen Kopftücher, die Zahl der Mädchen, die kein Kopftuch tragen lassen sich an einer Hand abzählen. Der Versuch, die Mädchenschar zu fotografieren mißlingt. Niemand möchte mit der ausländischen Journalistin sprechen. Fast alle der Mädchen drehen die Köpfe weg und wollen nicht fotografiert werden. Diejenigen, die nicht wegsehen oder sich umdrehen tragen eine Corona-Schutzmaske, die die jungen Gesichter verbirgt.

Deraa sei eine konservative Stadt, bestätigt Presseoffizier Ali Oumran. »Früher lehrten Lehrerinnen aus dem ganzen Land hier an den Schulen. Ob sie ein Kopftuch trugen oder nicht, spielte keine Rolle.« Die Religion sei immer eine private Sache gewesen, fügt Oumran hinzu. »Wir sind damit aufgewachsen, daß die Religion eine Sache zwischen dem Menschen und Gott sei«, fährt er fort. Die Vielfalt des Glaubens und gegenseitiger Respekt garantierte über Generationen hin die Sicherheit der Menschen. Doch der Krieg habe die Gesellschaft verändert, sagt er dann nachdenklich und schweigt.

Die Omari-Moschee

Nun geht es um die Frage, ob ein Besuch der Omari-Moschee im alten Teil von Deraa, Deraa al-Balad möglich sei. Man wolle die Menschen dort nicht beunruhigen, sagt der Presseoffizier. Manchmal sei die Lage unübersichtlich. Doch nach einigen Telefonaten gibt der Fahrer Gas und fährt zügig über die Straße, die den neuen Teil von Deraa mit Deraa al-Balad, der Altstadt, verbindet. Sie führt über das Yarmuk-Tal und den Fluß, der weiter westlich in den Jordan fließt und einst Syrien und Jordanien mit Wasser versorgte. Saftiges Grün gibt es nicht mehr. Der Yarmuk ist nur ein Rinnsal.

Im Innenhof der Omari Moschee haben Arbeiter die Steine des zerstörten Minaretts zusammengetragen. Sie bereiten die Restaurierung des Bauwerks vor, das aus dem 12. Jahrhundert stammt, wie ein Arbeiter sagt. Andere Quellen datieren den Bau auf das 8. Jahrhundert. Benannt ist die Moschee nach dem Kalifen Omar ibn al-Khattab, der unter sunnitischen Muslimen als einer der vier rechtgeleiteten Kalifen gilt.

Ein großer Mann mit dichtem Bart tritt durch einen Seiteneingang in den Hof und fordert Aufklärung über die Fremden. Der Presseoffizier erklärt, daß eine deutsche Journalistin die Moschee habe sehen wollen und zieht sich zurück, als der hochgewachsene Mann beginnt, an dem Offizier vorbei über die Moschee zu sprechen. Im 18. Jahrhundert sei die Moschee durch ein Erdbeben beschädigt worden, erklärt er. Dann hätten elf Jahre Krieg ihre Spuren hinterlassen. Vor dem Krieg hätten bis zu 3.000 Gläubige jeden Freitag in der Moschee gebetet, viele von ihnen außerhalb der Mauern. Nun kämen bis zu 700 Gläubige, die im Innenhof beteten, soweit die Bauarbeiten es zuließen.

Gefragt nach seinem Namen winkt der Mann ab. »Schreiben Sie ‚Abu Ali’«, meint er. Nein, der Scheich der Moschee sei er nicht. Er gehöre der Gruppe an, die die Moschee wieder aufbauen werde. Gefragt, wo der Platz für die Frauen in der Moschee sei, zeigt »Abu Ali« auf eine hinter Ecke. Dort sei eine Tür in der Außenmauer und durch einen separaten mit Tüchern verhängten Eingang gelangten die Frauen in die Moschee. Mangels verhüllender Kleidung sei ein Besuch für den deutschen Gast nicht möglich, so »Abu Ali«: »Möge Gott Ihnen helfen, eine muslimische Dame zu werden.«

Was denkt man in Deutschland

Zurück auf der Militärbasis Israa wird das Gespräch mit Presseoffizier Ali Oumran persönlich. Ob man in Deutschland überhaupt wissen wolle, was in Syrien geschehe, will er wissen. »Wenn ich dort über diesen ungerechten Krieg sprechen würde, würden die Leute mir zuhören?«

Der 55-jährige Oumran ist seit 34 Jahren in der Armee, ausgebildeter Pilot und hat später selber Piloten ausgebildet. In der Militärakademie habe er politische Wissenschaft studiert, erzählt er. Zu Beginn des Krieges wurde er am Flughafen Kuwaires östlich von Aleppo eingesetzt. Seine Einheit sei sowohl vom »Islamischen Staat« als auch von anderen bewaffneten Gruppen angegriffen worden. Drei Jahre lang wurden sie belagert, er sei mehrmals verletzt worden.

Westliche und die sozialen Medien im Internet hätten den Krieg mit angeheizt. »Die Globalisierung hat aus der Welt ein Dorf gemacht. Es ist unmöglich, die Verbreitung von Nachrichten zu kontrollieren, auch wenn sie verzerrt sind«, sagt er.

»Das Versöhnungsangebot des Staates ist ohne Vorbedingungen«, betont der Presseoffizier. »Wer das Angebot annimmt, gegen den werden alle Vorwürfe fallen gelassen. Wir haben genug Krieg, Tod und Zerstörung erlebt.« Alle Syrer hätten unter dem Krieg gelitten, so Oumran.